Kapitel 43

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Zitternd saß ich auf der Bank in Margots Küche. Durch das Fenster sah man, dass die dunkle Nacht bereits heller wurde. Doch das kümmerte mich nicht. Nichts kümmerte mich. So wie damals, als Mutter gestorben war. In mir herrschte eine beängstigende Leere, als hätte man Tia geraubt und nur ihre Hülle zurückgelassen. Als wäre es mein Leben, dass vor ein paar Stunden beendet worden war. Mit zitternden Fingern berührte ich den Verband, den mir Margot bereits vor einigen Minuten von meinem linken Unterarm bis zum Handgelenk angelegt hatte. Das würde eine hässliche Narbe geben, doch das war mir im Moment egal. Ich spürte selbst den Schmerz nur gedämpft. Jemand redete auf mich ein, doch ich konnte nichts verstehen. Alles um mich herum nahm ich nur wie durch einen Schleier wahr. War es wirklich schon Stunden her? Ich konnte die Schreie immernoch hören. Meine Schreie. Und die Gesichter. Ich sah sie so deutlich vor mir, dass es wehtat. Und das Blut. Überall so viel Blut. Heftig zuckte ich zusammen, als jemand meine Schulter berührte. Als ich automatisch den Kopf hob, sah ich in ein paar vertrauter Augen, die mich so voller Schmerz und Mitgefühl ansahen, dass sie mich aus dem Schleier aus Gefühllosigkeit herauskatapultierten. Margot streichelte sanft meine Wange und redete leise und beruhigend auf mich ein. Dabei liefen ihr Tränen über die Augen. Endlich regte sich auch in mir etwas. Es war, als hätte eine Betäubung ihre Wirkung verloren. Es war real. Das alles war kein Traum, sondern wirklich passiert. Vom einen auf den anderen Moment durchbrach ein unbeschreiblicher Schmerz die Leere in meinem Inneren. Weinend warf ich mich in Margots Arme, die  mich schützend an sich drückte. „Alles wird gut." flüsterte sie wieder und wieder in mein Ohr. Doch sie log, das wusste ich. Nichts wurde wieder gut. Ich hatte in dieser einen Nacht etwas verloren, das mir niemand zurückgeben konnte.

Sofie rüttelte sanft an meiner Schulter, um mich aufzuwecken. Meine Augen waren verklebt als ich aufwachte, darum wischte ich mir schnell über das Gesicht. Meine Wangen waren feucht und meine Haut gespannt durch die salzigen Tränen. Sofie sah mich, wie immer wenn ich schlecht geträumt hatte, besorgt an. Wie immer lächelte ich schnell, um ihr zu versichern, dass es mir gut ging. Und wie immer drückte sie mich an sich, weil sie wusste, dass das nicht stimmte. In ihren Umarmungen fand ich stets Trost. Als wir uns lösten, begannen wir uns stumm fertigzumachen. Das beunruhigte mich ein wenig. Sofie plapperte sonst die ganze Zeit mit mir, heute jedoch schien sie in ihre eigenen Gedanken vertieft zu sein. Da sie mich sonst auch nie drängte ihr etwas zu erzählen, beschloss ich dasselbe zu tun.

Doch sie blieb den ganzen Vormittag ziemlich wortkarg. Das beunruhigende Gefühl stieg, doch ich versuchte weiterhin geduldig zu sein. Am Nachmittag bekamen wir den Rest des Tages frei, da wir dem Personal für den Ball Platz machen mussten, die nun alles vorbereiten mussten. Nachdem wir aus der Küche gingen und uns von Tim verabschiedet hatten, der den Tag mit seinen Eltern verbringen wollte, nahm meine beste Freundin mich beiseite und meinte: „Wir müssen reden." Irritiert nickte ich, denn es schien etwas ernstes zu sein. Wir gingen in einen abgelegenen Teil des Schlossgartens und setzten uns ins Gras, bevor Sofie mit ihrem Anliegen begann. „Also, ich habe lange nachgedacht über unser Gespräch gestern..." Mit einem Blick vermittelte ich ihr ein bohrendes Jaaaaaaa?, bis Sofie schließlich herausplatzte: „... und ich finde du solltest auf den Ball gehen." Im ersten Moment begriff ich ihre Worte nicht. Dann sah ich sie sowohl überrascht als auch entsetzt an und schüttelte so heftig  den Kopf, dass es wehtat. Doch sie sprach weiter. „Ich habe lange über diese Entscheidung nachgedacht, und finde es richtig so." Ich war versucht ihr einen Vogel zu zeigen. Stattdessen schrieb ich:

Das kommt gar nicht in Frage! Du hast so hart dafür gearbeitet, um auf diesen Ball gehen zu können.

Warm lächelte sie mich an. „Naja, ich habe mich zwar bemüht, aber verdient habe ich diese Möglichkeit eigentlich nicht. Mein Benehmen und arbeiten galt nur als tadellos, weil sie keinen Fehler bemerkt haben. Du hast schließlich mein Versagen vor ein paar Wochen auf dich genommen, weißt du nicht mehr? Du hast Annes Rüge und sogar ihre Strafe angenommen, obwohl eigentlich ich sie verdient hatte. Also gebührt sowieso dir die Ehre und nicht mir."

Aber es ist doch dein Traum! Du wolltest doch mit dem König tanzen!

Wieder lächelte sie mich so voller Liebe an und nahm meine Hand. „Und es ist dein Traum, diesen Menschen zu finden, den du schon so lange suchst und vermisst. Im Vergleich dazu kann ich mit meinem 'Traum' ruhig zurückstecken. Außerdem" Sie zwinkerte schelmisch. „Wollte ich früher nur so sehr auf den Ball weil ich hoffte, der König könnte mich dort bemerken. Aber wie sich herausstellte, klappt es doch auch ohne prunkvollen Saal, Musik und edle Kleider. Also ist es für mich längst nicht so wichtig wie für dich." Ich musste lächeln. Es stimmte, der König und Sofie schienen sich von ganz alleine anzunähern. Und wenn sich mir eine solche Chance schon bot, wollte ich sie ergreifen.

Du bist die beste Freundin, die man haben kann, weißt du das?

Sie grinste und umarmte mich. „Ich weiß, mindestens so toll wie du!" Doch mein Glück wurde von einem Gedanken gedämpft. Schnell löste ich mich aus ihrer Umarmung.

Aber es geht trotzdem nicht. Ich habe kein angemessenes Kleid für einen Ball.

Doch statt ebenso kritisch dreinzublicken wie ich, grinste sie nur unheilvoll. „Lass das mal meine Sorge sein."

Mit diesen Worten zog sie mich mit in unser Zimmer. Unter ihrem Bett zog sie eine große dunkle Holzkiste hervor. Die hatte ich zuvor nie bemerkt. Vermutlich deshalb, weil Sofie gut darauf geachtet hatte, sie vor neugierigen Augen zu schützen, so wie ich dasselbe mit meinem Medaillon tat. Die Kiste war mit einem Vorhängeschloss verschlossen, was mich nur noch neugieriger machte. Den Schlüssel dafür kramte meine beste Freundin aus der Tasche ihres Kleides. Mühelos entriegelte sie das Schloss und öffnete den Deckel der Kiste. Da Sofie vor ihr auf dem boden kniete, beugte ich mich über sie um eine bessere Sicht auf den Inhalt zu haben. Zuerst sah ich nur ein Haufen Stoff, den meine Mitbewohnerin herauszog und sorgfältig auf ihrem Bett drapierte. Nun erkannte ich die Umrisse eines Kleides. Ein überraschtes Keuchen entfuhr mir. Das Kleid besaß eine A-Linie und war hellblau. Der Ausschnitt, geschmückt mit einem Spitzenband, verlief gerade und überdeckte gerade so die Schultern. Die Ärmel waren schlicht und verliefen bis zum Unterarm, wo sich die Enden etwas weiteten und mit Tüll geschmückt waren. Der Saum des Kleides war mit derselben Spitze geschmückt wie Ausschnitt und Schultern. Es sah längst nicht so teuer und pompös aus wie das Kleid einer Königin oder Prinzessin, dennoch war es einfach wunderschön.

Glaub es oder nicht, aber meine Tante war mal eine Gräfin." erklärte Sofie, während ich weiterhin das Kleid bewunderte. „Naja, bis ihr Mann ihr ganzes Vermögen verspielt hat und sie sogar ihren Titel verloren haben." Schulterzuckend zupfte sie einige Falten auf dem Kleid. „Jedenfalls konnte sie einige ihrer Habseligkeiten retten und hat sie mir und meinen Schwestern gegeben. Darunter auch dieses Kleid. Ich hatte es seit meiner Ankunft hier in dieser Truhe sicher verwahrt, man weiß ja nie ob man es mal brauchen kann." Grinsend wandte sie sich mit dem Gesicht zu mir. „Tja, und wie sich herausgestellt hat, ist meine Intuition einfach der Hammer!"
Nein! Formte ich mit den Lippen an Sofie gewandt. Das konnte ich nicht annehmen! Das war zu viel!

Das ist ein Erbstück! Das kann ich nicht

Bevor ich zuende schreiben konnte, hatte sie mir bereits den Stift weggenommen. „Oh doch, du kannst! Mach jetzt keinen Rückzieher! Außerdem passt mir das Kleid sowieso nicht richtig, ich hätte es total aufwendig ändern müssen. Also, keine Widerrede!" Sprachlos sah ich sie an. Dann nahm ich sie stürmisch in den Arm. Womit hatte ich so eine Freundin verdient?! Sie lachte und löste sich von mir. „Schon gut. Und jetzt: Schluss mit den Sentimentalitäten! Wir müssen dich fertigmachen, sonst kommst du zu spät!" Sie klatschte geschäftig in die Hände, woraufhin ich grinsen musste, bevor wir uns gemeinsam an die Arbeit machten.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt