Schwer atmend starrte ich auf den Boden. Irgendwann hatte ich aufgehört zu rennen. Nun befand ich mich in einem leeren Gang, ich wusste allerdings nicht in welchem. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob ich mich noch im selben Stockwerk befand. Momentan ging mir allerdings etwas ganz anderes durch den Kopf. Genauergesagt: Gar nichts und alles. Immer wieder hörte ich in meinen Gedanken den Satz: Er weiß jetzt, dass du ein Mädchen bist. Welchen Eindruck gibt ihm das von mir? Wirkt sich das positiv oder negativ aus? Kann ich dafür vielleicht auch bestraft werden? Habe ich irgendeine Regel gebrochen? Ich kannte die Regeln in Lavinia, aber mit den Regeln aus Dyandra war ich nicht vertraut.
Gedankenverloren griff ich nach ein paar Haarsträhnen, die offen über meine Schulter fielen. Zwischen dem dunklen Blond, fast hellbraun, hatte sich auch eine einzelne hellblonde Strähne verirrt. Unbehaglich griff ich hinter mich und holte auch den Rest meine Wellen hervor. Dann begann ich, sie zu flechten. In meiner Hosentasche hatte ich noch ein Haarband, und so konnte ich den Zopf am Ende festbinden. Er war nicht ordentlich, aber das war mir im Moment egal. Hauptsache die Haare waren nicht mehr offengelegt. Das Gefühl mochte ich nicht. Nicht in der Öffentlichkeit. Mich hatte noch nie jemand mit offenen Haaren gesehen. Außer Sofie, wenn ich sie kämmte und frisierte, Margot und meiner Familie. Meine Familie...
„Auaaa!" beschwerte ich mich lautstark, als Mama die Bürste durch meine Haare zog. „Das tut weh!" Entschuldigend hob sie die Schultern. „Ich weiß, mein Schatz. Aber wenn wir sie jetzt durchkämmen, dann können wir dir einen Zopf machen und sie verknoten sich nicht mehr so schnell. Einverstanden?" „Nein!" Ich schüttelte heftig den Kopf. Diese Schmerzen würde ich nicht weiter über mich ergehen lassen! Außerdem war ich zu ungeduldig um die ganze Zeit still dazusitzen. Zum Glück klopfte es in diesem Augenblick. Ein Junge, genau drei Jahre älter als ich, trat ein. „Erik!" rief ich fröhlich, sprang auf und rannte zu ihm. „Hey, Kleine!" Naserümpfend verzog ich das Gesicht. Ich war nicht mehr klein! Seine dunkelbraunen Haare waren im Nacken zusammengebunden, sodass sich sein kleiner Pferdeschwanz bewegte, wenn er den Kopf drehte. Als mich seine dunkelbraunen Augen ansahen, grinste er: „Du siehst total komisch aus!" Demonstrativ fuhr er mir durch die Haare, die sich durch das Kämmen elektrisch aufgeladen hatten. Eigentlich war einer Siebenjährigen ihr Aussehen egal, aber seine Aussage beleidigte mich. Demonstrativ zerzauste ich meine Haare noch weiter und streckte meinem Gegenüber die Zunge heraus. „Du verstehst halt nix von Mode!" Er lachte spöttisch: „Aber du verstehst was davon, ja?" Gerade wollte ich anfangen, mit ihm zu raufen, als Mama dazwischen ging. „Hört auf zu streiten, Kinder!" Dann nahm sie mich und schob mich wieder zu einem Stuhl. „Erik, könntest du bitte noch einen Moment warten? Tia kommt gleich nach." Nickend veschwand der Junge wieder hinter der Tür. Und ich? Ich wurde von Mamas eisernem Willen gezwungen, stillzuhalten bis mein Haare gekämmt und geflochten waren. Aber als Belohnung hatte Mama mich am Ende gelobt und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor sie mich zum Spielen geschickt hatte.
Ein Geräusch riss mich aus der Erinnerung. Nein, kein Geräusch: Ein lauter, dumpfer Krach. Erschrocken richtete ich mich auf und ging in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Schließlich kam ich vor eine Treppe. Auf der ersten Stufe lag ein Junge. Bei näherem Hinsehen erkannte ich Tim. Er musste einige Teller oder etwas ähnliches getragen haben, denn um ihn herum lagen viele Porzellanscherben. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Schnell lief ich zu ihm hin und sah ihn besorgt an. Als er mich bemerkte, versuchte er sich so normal wie möglich aufzusetzen und murmelte: „Was ist? Was machst du hier?" Ich griff nach meinem Notizblock.
Ich habe Lärm gehört. Geht es dir gut?
Er sah von dem Blatt zu mir, dann wieder zum Blatt und wieder zu mir. Sein Blick war verwirrt. Entsetzt erkannte ich den Grund dafür: Tim konnte nicht lesen. Also steckte ich den Block wieder weg und versuchte es stattdessen mit Zeichensprache. Ich deutete auf ihn, dann verzog ich mein Gesicht vor Schmerzen und sah ihn fragend an. das schien er zu verstehen. „Mir geht es gut, ich bin nur ausgerutscht. Ich muss nur schnell das Chaos hier beseitigen, bevor - Ahh!" Während er sprach war er aufgestanden und hatte sich dabei mit seiner Hand abgestützt, jetzt jedoch hielt er sie fest und verzog schmerzvoll sein Gesicht. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand und drehte sie so, dass die Innenfläche nach oben zeigte. Dort zog sich ein roter Schnitt durch die Haut. Eine Scherbe musste ihn gestreift haben. Sofort zog ich den Jungen an seinem gesunden Arm mit mir mit. „Hey!" empörte sich dieser, der mich bereits zuvor misstrauisch beäugt hatte. „Wo bringst du mich hin?! Ich muss die Scherben wegräumen!"
Entschlossen schüttelte ich den Kopf und zog den Jungen weiter. Da ich älter und stärker war, hatte er keine Chance dagegen anzukommen, also ließ er sich widerwillig von mir weiterziehen. Zielstrebig durchquerten ich mit ihm einige Flure, bevor wir vor meinem Ziel standen. Es war eine unscheinbare Holztür, durch die wir nun hindurchgingen. Wir standen nun im Krankenzimmer. Ein paar Liegen standen im hinteren Teil, davor gab es einige Schränke, vermutlich enthielten sie Medizin und andere nützliche Utensilien. Als der Junge erkannte, wo ich ihn hingebracht hatte, wurde er bleich im Gesicht. „I-ich kann hier nicht bleiben. Ich muss doch aufräu..." Weitersprechen konnte er nicht. Auf einmal sah der rothaarige Junge tatsächlich nur noch aus wie... wie ein normales Kind. Manchmal vergaß ich die Tatsache, dass er noch ein kleiner Junge war, da er bereits schon so viel und gut arbeitete. Jetzt im Moment war davon nichts mehr zu sehen. Da war nur noch ein kleiner Junge, der Angst vor Krankenzimmern hatte. Mit einem beruhigenden Lächeln kniete ich mich zu ihm herunter.
Ich versuchte ihm zu sagen Alles wird gut, du brauchst keine Angst zu haben. Entweder er verstand meine Botschaft oder ihn beruhigte alleine die Tatsache, dass ich vollkommen ruhig war. Jedenfalls hörte er auf zu zittern und atmete ruhiger. Zur gleichen Zeit erschien eine Krankenschwester im Zimmer. „Wie kann ich helfen?" Ich deutete auf die verwundete Hand des Jungen. Eifrig nickte sie. „Alles klar, setz dich mal da auf ein Bett, junger Mann, und zeig mir deine Hand." Er tat wie ihm befohlen wurde. Die Schwester untersuchte den Arm, bevor sie ihn anschließend säuberte und sich daran machte, die Hand zu verbinden. „Keine tiefen Verletzungen. In ein paar Wochen sollte es ganz verheilt sein. Doch es war gut, dass ihr so schnell gekommen seid, sonst hätte sich die Wunde entzünden können." Tim hielt die ganze Zeit brav still und ich saß neben ihm. Dann fiel mir noch etwas ein. Eilig schrieb ich etwas in mein Notizbuch und zeigte es der Frau.
Die Schwester sah mich zuerst etwas verwirrt an, dann sagte sie zu dem Jungen: „Das Mädchen möchte von dir wissen, ob es in Ordnung ist, wenn sie kurz verschwindet. Sie verspricht aber wiederzukommen." Aufmunternd sah ich den Jungen an. Tim nickte nur. Damit ging ich aus der Tür und suchte mir Besen und Schaufel zusammen, um die Scherben aufzukehren. Tim sollte schließlich keinen Ärger bekommen, nur weil er seiner Gesundheit Vorrang gegeben hatte. Nun ja, weil ich seiner Gesundheit Vorrang gegeben hatte. Nachdem ich alles weggeräumt hatte, kam ich wieder zum Krankenzimmer. Tim war mittlerweile fertig verbunden worden und hielt mir mit dem Stolz eines kleinen Kindes seinen Verband hin. Ich nickte lächelnd und begleitete ihn zurück zur Hauptküche. „Aber ich muss doch -" wollte er widersprechen, doch ich schüttelte bereits den Kopf. Als wir an dem Unfallort vorbeiliefen, sah der Junge dann zwar das geordnete Chaos, sagte aber nichts weiter dazu. Er schien sich nur zu beruhigen. Das war alles, was ich wollte.
Als wir vor der Küche ankamen, ging er alleine durch die Tür. Kurz bevor sie sich schloss, drehte er sich nochmal um und lächelte unsicher. „Danke, Tia." Ich lächelte ebenso zurück. Es war das erste Lächeln, das mir, abgesehen von Sofie, jemand aus dem Palast schenkte.
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Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...