Als ich vor dem Schloss zu Kilian stieß, grinste dieser immernoch verschmitzt. Wie ein kleiner Junge, dem nur allzu bewusst war, dass er etwas verbotenes tat. „Komm mit, aber versuch, keine Geräusche zu erzeugen." Mit einer winkenden Handbewegung wandte er mir den Rücken zu und schlich leise über den Hof. Ich folgte ihm.
Erst jetzt bemerkte ich den Sack, den er sich über die Schulter gehievt hatte. Erschrocken dachte ich zuerst, darin befände sich jemand. Im nächsten Moment stellte ich erleichtert fest, dass der Sack zwar groß war, aber nicht so groß. Dennoch weckte er mein Interesse. Was war wohl darin? Meine Gedanken wurden unterbrochen, als wir im Schlossgarten an eine Stelle der Außenmauer ankamen, die nicht ganz so hoch war wie der Rest. Vielleicht doppelt so hoch wie Kilian, der mich um einen halben Kopf überragte. Ungläubig sah ich zu meinem Begleiter. Da sollen wir rüber?! Wie soll das funktionieren? Als Antwort stellte der Prinz den Sack ab, ging ein wenig in die Knie und faltete seine Hände. Erst nach ein paar Augenblicken erkannte ich, dass er eine Räuberleiter machte. Unsicherheit ergriff mich. Die Mauer war schon sehr hoch. Und das letzte Mal war ich in meiner Kindheit geklettert. Meine Hände waren nach der monatelangen Arbeit im Schloss zwar längst nicht mehr so empfindlich wie Pergament, dennoch war meine Haut immernoch zu zart und nicht geeignet um am rauen Steinen Halt zu finden.Doch ein paar Geräusche, die aus der Ferne vom Palast kamen, ließen mich Panik ergreifen und meine vorherigen Ängste vergessen. Vermutlich hatte man das Verschwinden des Prinzen inzwischen bemerkt. Hastig stellte ich einen Fuß in Kilians wartenden Hände und wurde prompt von ihm hochgedrückt. Überrascht tasteten meine Hände nach der Mauer, um Halt zu finden. Eine Hand erfasste nur die raue Steinwand, die andere jedoch erreichte tatsächlich das obere Ende. Schnell krallte ich mich mit beiden Händen fest und zog mich hoch. Strampelnd, leise ächzend und alles andere als elegant hievte ich mich schließlich auf die Mauer. Neben mir zog sich nun auch Kilian hoch. Mühelos und elegant wie eine Katze kletterte seine königliche Hoheit die Mauer hinauf und saß im Nu neben mir. Den Sack hatte er zuvor nach oben geworfen. Mit einem zufriedenen Grinsen sah er kurz zurück zum Schloss, in dem bereits Geräusche von Tumult zu hören waren, dann nahm er den Sack wieder auf die Schultern und ergriff gleichzeitig meine Hand, die verräterisch zu kribbeln begann. „Das klappt doch schon ganz gut! Und jetzt müssen wir springen." Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihn an. WAS?! Eindringlich, ohne das Grinsen sah er mir in die Augen. „Vertraust du mir?" Nach einem heftigen Schlucken nickte ich. Ein kleines, zutrauliches Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. „Dann los." Er zählte bis drei, dann sprangen wir gemeinsam. Die Landung war hart. Zwar landete ich auf meinen Füßen, doch diese begannen durch die Wucht kurzerhand schmerzhaft zu brennen. Erst nach einigen Sekunden verging der Schmerz langsam.
Zusammen liefen wir weiter. Um uns herum lagen weite Wiesen und Felder, eingetaucht in strahlendes Mondlicht. Die warme Sommerluft roch nach Gras und irgendetwas süßlichem. Wir gingen auf einem Pfad, der in einen etwas entfernten Wald führte. Derselbe Pfad, auf dem Sofies Geschwister gekommen waren, ging es mir auf. Während ich mich fragte, wohin wir wohl gingen, bemerkte ich Kilians Blick auf mir. Als ich ihn fragend ansah, bemerkte ich wie seine Augen leuchteten und die feinen, etwas zerzausten schwarzen Haare durch das kalte Mondlicht zu schimmern begannen. „Du siehst sehr schön aus." bemerkte er. Er lächelte nicht, doch etwas in seiner Stimme jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken. Etwas unbeholfen wandte ich den Blick ab und strich mir eine nicht vorhandene Haarsträhne hinters Ohr. Um mich abzulenken griff ich zu Stift und Notizbuch und fragte: Wohin gehen wir denn jetzt? Was hast du vor? Das helle Mondlicht ermöglichte es Kilian, meine geschriebenen Worte gut zu entziffern. Er lachte. Sein Lachen klang über das sonst so stille Land und jagte mir erneut einen wohligen Schauer über den Rücken. „Sei nicht so ungeduldig. Du wirst es früh genug erfahren." Den restlichen Weg über schwiegen wir, doch es war kein unangenehmes Schweigen. Wir liefen weiter den Pfad entlang, passierten den Wald, dessen Stille von Grillen durchdrungen wurde, und gelangten schließlich in ein Dorf.
Es war nicht besonders groß und die Häuser ähnelten denen in Lavinia sehr. Fast fühlte ich mich ein wenig heimisch, nur der Gedanke daran, dass keines dieser Häuser Margot gehörte, versetzte mir einen Stich. Ich konnte mir fast lebhaft vorstellen, wie sie aus einer der Hütten kam, mich ansah und mit lautem Protest in ihr Heim zog, um sich um mich zu kümmern und mir vorzuhalten, wie unschicklich und gefährlich es für eine Dame war, sich zu so später Stunde alleine draußen aufzuhalten. Doch Margot war nicht hier. Und ich war nicht alleine. Wie aufs Stichwort räusperte sich mein Begleiter und deutete auf die nächstgelegene Hütte am Dorfrand. Auf den zweiten Blick entdeckte ich das Gastronomieschild daran. Dann drangen auch muntere Stimmen aus dem erhellten Haus an mein Ohr. Fragend sah ich Kilian an. Dort hinein? Er nickte, ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen. „Dort hinein." Als er seine Hand ausstreckte, legte ich meine in seine und ließ mich von ihm zum Gasthaus ziehen. Ich wusste nicht auf was ich mich da einließ, aber irgendwie spürte ich eine Art Vorfreude.
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Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...