Kapitel 26

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„Tia? Tiaaa! Komm schon, wach auf! Sonst kommen wir zu spät!" Jemand rüttelte an meiner Schulter. Verschlafen öffnete ich die Augen und sah in Sofies Gesicht, das über mir hing. Meine Augen fühlten sich dick an, und mir war warm. Entsetzlich warm! Und ich fühlte mich kaputt, als hätte ich nächtelang nicht geschlafen. Sofies Blick verriet mir, dass ich wohl auch so aussah. „Du siehst schrecklich aus!" gab sie überflüssigerweise zu. Ich versuchte sie mit einem Blick anzusehen, der sagte: Vielen Dank für diese Information. Da wäre ich ja aufgrund deines Blickes niemals alleine drauf gekommen! Und bloß nicht zu viele Komplimente am Morgen. Stattdessen wurde aus diesem Blick wohl eher eine Grimasse. Sofie legte mir eine Hand an die Stirn. „Du hast Fieber. Das ist nicht gut. Ich sollte besser eine Ärztin holen." Sie stand auf und wollte zur Tür, doch ich hielt sie am Arm zurück und versuchte mich aufzusetzen.
Allerdings wurde mir sofort schwindelig, und meine Mitbewohnerin drückte mich sanft aber bestimmt wieder ins Bett.

„Nicht aufstehen, du bist krank." Bittend sah ich sie an und machte ein paar Gestiken mit den Armen. Bitte keine Ärztin. Es geht mir gut. Sie rollte mit den Augen. „Okay, pass auf: Ich werde keine Ärztin holen, dafür bleibst du im Bett und kurierst dich aus, okay?" Zögernd sah ich auf die Tasche mit meiner Kleidung darin. Wenn ich hier blieb, würde man mich dann nicht entlassen? Ich konnte meine Stelle hier nicht riskieren für eine kleine Krankheit. Wobei es mir jedoch wirklich schlecht ging. „Man wird dich nicht entlassen, wenn du einen Tag nicht zur Arbeit erscheinst. Und ich werde mit Anne reden, damit du auch wirklich keine Probleme bekommst. Das verspreche ich dir." Sofie schien mal wieder meine Gedanken lesen zu können. Erleichtert nickte ich, als Zeichen dass ich einverstanden war.

Meine Mitbewohnerin stellte noch einen Krug mit Wasser neben mein Bett und legte ihre Decke über meine eigene, als ich zu frieren begann. Dann musste sie gehen. Nun lag ich alleine in dem kleinen Zimmer. Es war ungewohnt, ohne Sofie hier zu sein. Es fühlte sich nicht richtig an. Alles, was dieses kleine Zimmer im Laufe der letzten Wochen so heimelig für mich gemacht hatte, war die Tatsache, dass ich es mit meiner besten Freundin teilte. So fühlte ich mich jetzt wieder alleine, allerdings konnte die Traurigkeit mich nicht übermannen, da es mir schwerfiel einen Gedanken zu fassen. Es waren mehrere Minuten, vielleicht auch schon einige Stunden vergangen und ich gerade die Augen schließen und in den Schlaf sinken wollte, als die Tür aufgerissen wurde und eine Gestalt hereinkam. Zuerst erkannte ich sie nicht, da ich mit halb geschlossenen Augen nur verschwommen sah.

Als ich dann jedoch ein paarmal blinzelte und wieder klarer sah, erschrak ich. Anne stand im Zimmer, nahm sich gerade einen Hocker und setzte sich zu mir ans Bett. Ihre Miene war gefasst, keine Spur außer Stress konnte man ihr ansehen. Ich konnte mich nicht regen und auch nicht sprechen, es war zu anstrengend. Der einizge Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war: Bekam ich nun Ärger? Doch anstatt mich zu beschimpfen legte Anne ihre Hand auf meine Stirn. „Hmmm..." gab sie von sich, bevor sie ein Tuch in einen Eimer voll Wasser tauchte, den sie mitgebracht hatte. „Hohes Fieber. Keine Erkältung. Vermutlich Überanstrengung durch etwas. In ein zwei Tagen sollte das wieder werden." murmelte sie mehr zu sich selbst als zu mir, bevor sie das nasse Tuch auf meine Stirn legte und eine Kräutermischung in einen Becher mit Wasser zu rühren begann. Als sie fertig war, griff ihre starke Hand nach meinem Kopf, zog ihn zu sich, setzte mir den Becher an den Mund und befahl mir zu trinken. Gehorsam, wenn auch immernoch überrascht, tat ich was sie sagte. Es schmeckte bitter und irgendwie salzig. Angeekelt verzog ich das Gesicht, als Anne meinen Kopf zurück auf das Bett sinken ließ.

„Was nicht schmeckt, hilft." kommentierte sie nur und packte ihr mitgebrachtes zusammen. „Jetzt schlaf so viel wie möglich. Sofie wird dir ein Mittagessen vorbeibringen. Heute Abend sehe ich nochmal nach dir." Mir fielen bereits die Augen zu, als ich fühlte, wie eine Hand über meine Wange strich. „Ach Mädchen..." hörte ich Anne murmeln, in einem viel sanfteren Ton. „Was ist dir nur widerfahren, dass du so heftig auf Stress reagierst..." Ich dachte kurz an den Alptraum von letzter Nacht, bis ich schließlich nicht mehr denken konnte sondern einschlief.

Angeekelt sah ich zu der braunen Flüssigkeit auf dem Löffel, die mein Vater mir hinstreckte. Er seufzte. „Ich weiß, mein Schatz. Aber der Arzt hat gesagt, du musst die Medizin einnehmen, damit du wieder gesund wirst. Das willst du doch, oder?" Finster starrte ich auf den weiterhin in der Luft schwebenden Löffel. „Je schneller du schluckst, desto schneller ist es vorbei." Papa versuchte mich bereits seit einer halben Stunde zu überzeugen die Medizin zu schlucken. Ohne Erfolg. Lieber lag ich weiter krank im Bett. Da ging plötzlich die Tür auf und Erik kam herein. Als er sah, wie ich in meinem Bett saß und Papa vor meinem Bett kniete und mir den Löffel hinstreckte, musste er laut loslachen. „Ist sich die Dame zu fein um Medizin zu schlucken?!" warf er spöttisch ein. Ich verdehte die Augen und fragte in Gebärdensprache:

Hat man dir nicht beigebracht anzuklopfen?!

Er grinste. „Doch. Hat man dir nicht beigebracht respektvoll zu seinen Eltern zu sein?"

Wütend fragte ich:

Was soll das denn jetzt heißen?!

Er deutete auf Vater. „Das sieht mir nicht so aus." Nun starrte ich Erik genauso finster an wie den Löffel zuvor. Dann gebärte ich zu Papa:

Entschuldigung.

Er nickte. „Schon gut. Ich kann dich nicht zwingen..." Erik verschränkte unterdessen die Arme ineinander und sah mich auffordernd an. „In ein paar Tagen soll übrigens eine neue Buchhandlung unten im Dorf aufmachen. Eigentlich hatte ich ja vor mit dir hinzugehen, aber ohne Medizin wirst du bis dahin noch krank sein..." Schneller als beide schauen konnten hatte ich meinem Vater den Löffel aus der Hand gerissen und in meinem Mund verschwinden lassen. Dabei behielt ich meinen finsteren Blick zu dem braunhaarigen Jungen bei. Dieser grinste nur selbstzufrieden. Er wusste einfach, wie man mich ködern konnte.

Wehe, das war nur Spaß! Dann vergesse ich mich!  gebärdete ich ihm unheilvoll, doch er hob nur unschuldig die Hände. „Das war mein voller Ernst!" Dann kehrte sein Grinsen wieder zurück. „Außerdem musst du, um mir was anzutun, auch erst mal wieder gesund werden. Also hast du so oder so keine Wahl, Kleine!" Zuerst war ich wütend, doch diese Wut verflog schnell als Papa in das Lachen miteinstimmte. Es klang so schön, und er lachte so selten seit Mamas Tod. Also konnte ich nicht anders, als ebenfalls zu grinsen und stumm mitzulachen.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt