Kapitel 57

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Eine Wunde ist oft tief und braucht lange, bis sie überhaupt aufhört zu bluten. Und wenn sie schließlich anfängt zu heilen, braucht es trotzdem nicht mehr als einen kleinen Stoß, eine winzige Bewegung, um sie erneut komplett aufzureißen.

Diese winzige Bewegung war in diesem Fall seine Stimme. Sie löste einen Wirbelsturm aus Emotionen in mir aus. Da stand Erik. Mein Bruder. Er war hier. Vollkommen lebendig. Und er sah mich mit glänzenden, lebendigen Augen an. Die Emotionen in mir drohten mich zu ertränken, ich wusste nicht wie ich mich fühlen sollte. Ein Gefühl jedoch kämpfte sich unbarmherzig an die Oberfläche: Angst. Große Angst. Angst, dass das hier wieder nur ein Traum war und meine seelischen Wunden, die gerade zu heilen begonnen hatten, wenn ich aufwachte, wieder von neuem bluten würden. Angst, dass ich endgültig zerbrechen würde. Keuchend gaben meine Knie unter mir nach und ich sank zu Boden. Erik reagierte sofort und kam auf mich zu, dabei merkte ich jedoch wie er humpelte. Eine Illusion würde das nicht tun... oder? Als er schließlich direkt vor mir stand und sich langsam zu mir beugte, um sich vor mich zu knien, konnte ich ihn sogar riechen. Ganz dezent, aber er war da: Der Geruch nach Heu und Staub, der schon immer an meinem Bruder gehaftet hatte, da er früher so viel Zeit in den Ställen verbracht hatte. Es schien so real...
Mit Tränen in den Augen gebärdete ich:

Erik? Bitte sag mir, dass das kein Streich ist!

Lächelnd hob er eine Hand und strich mir über die Wange. Sie war warm. Auch ihm standen Tränen in den Augen, als seine weiche Stimme erneut erklang: „Du musst keine Angst haben. Ich bin es wirklich. Ich lebe!" Da schob ich all meine Angst beiseite und warf mich in seine Arme. Er drückte mich fest an sich und wir verharrten in dieser Position eine Weile auf dem Boden, weinten vor Freude und hielten uns einfach fest. Ich hatte Angst, wenn ich losließe würde ich ihn wieder verlieren. Aber er war hier. Mein Bruder lebte. Unsagbare Freude strömte durch meine Adern und ließ mich für ein paar Minuten alles andere vergessen. Am Rande nahm ich wahr, dass Kilian den Raum verlassen hatte, doch daran verschwendete ich keinen Gedanken. Im Moment war mir nur seine Anwesenheit wichtig. Schließlich fand ich den Mut, Erik loszulassen. Nun kamen auch die Fragen auf. Da ich immernoch überwältigt von dem Schock war, sprach ich automatisch in Gebärdensprache mit meinem Bruder.

Aber...Wie? Ich hab gesehen, wie du -

Schluckend ließ ich die Worte in der Luft hängen, doch Erik nickte beruhigend. „Ich weiß. Beinahe wäre ich auch tatsächlich gestorben. Ich hatte sehr viel Blut verloren und war komplett bewusstlos, doch ich hatte das Glück, dass James mich gefunden und aus dem Schloss geschafft hat. In einer alten Scheune, nahe des Schlosses, musste ich notversorgt werden. Nach einem Tag konnte James schließlich ein paar der besten Ärtzte des Landes auftreiben, die mich stundenlang behandelten. Nachdem man meine Wunde aber ordentlich gereinigt und genäht hatte, wachte ich nicht auf. Auch Tage nach der Behandlung nicht. Man wusste nicht, ob ich überleben würde. Die Chancen standen ziemlich schlecht, darum hatten sich James und Margot geeinigt, dass sie dir und Vater nichts davon erzählen, um euch keine falschen Hoffnungen zu machen. Nur sie beide wussten von mir. Schließlich bin ich nach über einem Monat aufgewacht. James hatte mich inzwischen auf einen abgeschiedenen kleinen Bauernhof gebracht, auf dem sich die Familie dort gut um mich kümmerte. Zunächst war ich total verwirrt, darum hat James mir die Situation erklärt. Damit war ich, wie du dir vorstellen kannst, überhaupt nicht einverstanden! Ich wollte nicht, dass ihr denkt ich sei tot! Allerdings ging es mir sehr schlecht, ich war schwach und konnte noch wochenlang danach das Bett nicht verlassen. Erst drei Monate nach dem Angriff hatte ich wieder Kraft, mich selbst zu bewegen und zu laufen. Allerdings fällt es mir bis jetzt schwer. Die Ärtzte wissen nicht, ob ich jemals wieder ohne Mühe gehen geschweige denn kämpfen kann." Daraufhin lehnte ich mich etwas zurück und sah ihn prüfend an. Das langsame, gebückte Gehen von vorhin hatte ich fälschlicherweise als Humpeln gedeutet. Nun erkannte ich die Schwerfälligkeit, mit der sich Erik bewegte.

Doch abgesehen davon hatte er sich nicht verändert. Die dunkelbraunen Augen waren noch genauso warm wie zuvor, sein Zopf war genauso ordentlich und sogar etwas länger, selbst die gebräunte Haut war noch dieselbe, obwohl er sicherlich nicht viel Sonne gesehen hatte in den letzten Monaten. Vorsichtig hob ich sein Hemd an, und Erik ließ mich gewähren. Darunter wurde eine große, unschöne Narbe an seiner Hüfte sichtbar. Ich verzog das Gesicht. Wegen mir musste er nun so leben. Er hatte mich beschützt und musste nun die Folgen tragen. Erik las an meinem Gesicht ab, was in mir vorging, darum sprach er schnell weiter und sah mir dabei fest in die Augen. Außer ihm hatte es bis jetzt nur Kilian geschafft, genau zu wissen wie es mir ging. „Gib dir nicht die Schuld dafür. Ich habe dich beschützt und würde es jederzeit wieder tun. Du bist doch meine kleine Schwester! Vermutlich werde ich nie mehr normal Gehen können, aber das ist nicht wichtig. Alles, was ich wollte und immernoch will, ist bei meiner Familie sein zu können!" Liebevoll strich er mir über den Kopf, was ich als Einladung nahm, mich erneut an ihn zu drücken. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr du mir gefehlt hast!" Erneut traten mir Tränen in die Augen, und ich musste mich von ihm lösen, um ihm dasselbe sagen zu können. Doch er las es bereits in meinen Augen. Ich beschloss, dass es nun an der Zeit war ihm noch etwas zu sagen.

Weißt du, es hat sich inzwischen auch einiges bei mir verändert.

Fragend hob er eine Augenbraue. Nun musste ich grinsen, wobei mein tränennasses Gesicht sich spannte. Dann meinte ich scherzend: „Ich hab jetzt gelernt wie man deine dreckigen Socken wäscht!" Meine Stimme klang etwas kratzig, doch das störte mich nicht. Eriks Augen vergrößerten sich auf das Doppelte, und ich konnte geradewegs sehen wie sein Lächeln sich verbreiterte. „Sag das nochmal!" hauchte er atemlos, nicht wegen dem was ich gesagt hatte sondern weil ich etwas gesagt hatte. Grinsend erwiderte ich: „Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, mich als Magd einzustellen!" Seine Augen strahlten mich an, während er murmelte: „Du sprichst...." Grinsend nickte ich. „Du sprichst wieder!" jubelte er und drückte mich erneut an sich. Lachend umarmten wir uns erneut und genossen die Freude, die uns dabei durchströmte. Ich hatte meinen Bruder wieder! Gemeinsam setzten wir uns anschließend an eine Wand nebeneinander. Als ich meinen Kopf auf Eriks Schulter legte, atmete er kurz zischend ein. Sofort entschuldigte ich mich, doch er winkte ab. „Schon wieder vorbei." Lächelnd sah er auf mich herunter. „Du bist ein bisschen gewachsen!" stellte er erstaunt fest. Stolz reckte ich den Kopf etwas, bevor er fortfuhr: „Aber immernoch klein." Schnaubend verschränkte ich die Arme, musste mir jedoch ein Grinsen verkneifen. Erik lachte und strich mir über den Arm. „Deshalb bist du doch meine Kleine!" meinte er versöhnlich, und obwohl ich diesen Namen früher nicht ausstehen konnte, hatte er mir in den letzten Monaten mehr als gefehlt, darum gab ich mich damit zufrieden. Nach einer Weile, in der wir beide friedlich geschwiegen hatten, fragte mein Bruder schließlich: „Du meintest vorhin, es hätte sich 'einiges ' geändert. Was hab ich denn noch so verpasst?" Sofort dachte ich an Kilian und räusperte mich unbehaglich. Ich teilte alles mit meinem Bruder, doch ich hatte mit ihm noch nie über Jungs gesprochen. Bisher hatte es ja noch keinen Anlass dazu gegeben. Trotzdem wollte ich ihm gerne von Kilian und mir erzählen. „Weißt du, es gibt da diesen jungen Mann..." begann ich.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt