Als wir endlich Pause machen durften, stürmte ich schon fast hinaus aus dem Palast in den Schlossgarten. Dort angekommen ließ ich mich auf einer Bank nieder, auf die die Bäume ihren Schatten warfen. Der Wind war warm und die Vögel auf den Bäumen zwitscherten vergnügt um vom Frühling zu berichten, doch ich hörte sie nicht. Alles, was ich wahrnahm, war das Stück Papier in meinen Händen, das ich aus dem Umschlag genommen und vorsichtig entfaltet hatte.
Meine liebe Tia,
Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin von dir zu hören! Es freut mich sehr, dass es dir gut geht und du sogar schon Freunde gefunden hast. Du fehlst uns ebenfalls schrecklich, aber wir trösten uns mit dem Wissen, dass du in Dyandra besser aufgehoben bist als hier. James habe ich in letzter Zeit nicht gesehen, dafür aber eine Nachricht von ihm erhalten. Das bringt mich auch gleich zu dem Anliegen in deinem Brief: Ja, ich habe tatsächlich Neuigkeiten von ihm, aber ich darf dir nichts sagen. Es tut mir Leid, Liebes. Du weißt, wie gerne ich dir helfen will, aber es ist zu deiner eigenen Sicherheit. Alles, was ich sagen darf, ist, dass du dir keine Sorgen machen musst. Sobald sich die Lage bessert und ich mehr sagen darf, gebe ich dir Bescheid, das verspreche ich dir.
So lange hab bitte Geduld. Du weißt, wir wollen dich nur schützen. Ich hab dich lieb, mein Schatz. Vergiss in der Zeit, in der wir uns nicht sehen, dein Versprechen nicht, ja? Und Denk immer daran: Du bist nie alleine. Ich und deine Familie, wir sind immer bei dir. Sie schauen von oben zu und sind mindestens doppelt so stolz auf dich wie ich es bin, das kannst du mir glauben!
Holger lässt dich übrigens grüßen. Seit du weg bist, ist er ein wenig mürrischer drauf. Er vermisst dich genauso wie ich. Aber sicher können wir uns bald wiedersehen.Bis dahin grüß mir bitte deine Freundin lieb,
Deine MargotEine Träne tropfte auf das Blatt. Gedankenverloren wischte ich sie ab. Margots Worte waren so tröstlich für mich. Wie Balsam für meine Seele. Und doch konnten diese Worte nicht allen Schmerz nehmen. Natürlich konnte sie mir nicht sagen, was sie über ihn wusste. Das war mir bereits vor dem Brief klar. Und doch hatte ich gehofft irgendeine versteckte Nachricht zu erhalten. Irgendeinen Hinweis. Entschlossen ging ich den Brief ein zweites Mal durch. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Hieß das, es ging ihm gut? Ich hoffte es. Ich hoffte es so sehr. Margot hatte mir zwar bereits vor Monaten versichert, dass ich mir keine Sorgen um ihn machen musste, aber ich konnte nicht aufhören. Das war doch nur natürlich. Meine Brust zog sich zusammen bei dem Gedanken daran, ob ich ihn wohl jemals wiedersehen würde.
In Lavinia hatte ich oft daran gedacht, nachts von Margots Haus wegzulaufen und ihn zu suchen. Aber ich wusste, wie sinnlos diese Idee war. Sie konnten ihn überall hingebracht haben. Alleine würde ich es wohl nie schaffen, ihn zu finden. Das durfte ich ja auch nicht. Es war viel zu gefährlich. Schon die Tatsache, dass ich so lange in Lavinia geblieben war, war riskant für mich gewesen. Aber das Herz hörte eben nicht auf den Verstand. „Hey Tia, da bist du ja! Hör mal, ich hab was ganz tolles - ...was ist denn los?" Überrascht riss ich den Kopf hoch und sah zur Seite. Ich war so vertieft in Gedanken gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, wie Sofie zu mir kam. Nun stand sie mit einem besorgten Blick vor mir. Lächelnd winkte ich ab und wischte mir den Rest getrockneter Tränen aus dem Gesicht.
Heimweh.
Das war keine Lüge. Nur die gemilderte Wahrheit. Mit mitfühlender Miene setzte sich meine Mitbewohnerin neben mich und legte einen Arm um mich. „Hat die Frau... Margot war es, nicht? Hat sie dir geschrieben?" Nickend wedelte ich leicht mit dem Papier in meiner Hand. Dabei versuchte ich es so unauffällig wie möglich zusammenzufalten, damit sie den Inhalt nicht lesen konnte. Die Rothaarige freute sich für mich. „Das ist toll! Geht es ihr gut?" Als Antwort zog ich das Notizbuch hervor.
Ja, ihr und ihrem Mann geht es gut. Margot lässt dich grüßen! Sie sagt, sie freut sich für mich, dass ich eine Freundin gefunden habe!
Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Wie nett! Richte ihr das nächste Mal auch von mir Grüße aus, ja?" Meine Antwort bestand aus einem Nicken.
Mach ich. Jetzt zu dir. Was wolltest du vorhin sagen?
Ihr schien wieder etwas einzufallen. Sofort wich dem mitleidigen Gesicht ein unbeschwertes Grinsen. „Oh ja, richtig! Meine Geschwister kommen mich nächsten Monat besuchen! Hier im Schloss!" Sobald sie das gesagt hatte, zog sie nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Obwohl...ob das wirklich so toll ist, dass sie kommen... Sie können ganz schön anstrengend sein, weißt du? Vor allem, wenn alle auf einmal kommen. Und laaut! Seeeeehr laaaauuut!" Dann kehrte ihr Blick jedoch wieder zu dem unbeschwerten Lächeln zurück. „Naja, sie sind ja nur ein paar Tage da. Und immerhin vermisse ich die Racker ja auch. Also was soll's!" Wieder veränderte sich ihre Miene, diesmal sah sie besorgt zu mir. „Ich hoffe es stört dich nicht, wenn in unserer Kammer dann noch 5 Kinder schlafen... Ich staple sie auch alle auf meiner Hälfte, versprochen!" Ihr ernster Blick, der aussah, als hätte sie tatsächlich vor ihre Geschwister aufeinander zu stapeln wie Bücher, nur damit ich nicht gestört wurde, brachte mich zum Lachen. Also... lautloses Lachen.
Ich habe kein Problem damit, ehrlich. Sie dürfen auch auf meiner Seite schlafen.
Sofie atmete erleichtert aus. „Gott sei Dank! Ich hätte nämlich nicht versprechen können, dass auch alle auf ihrem Stapelplatz geblieben wären!" Dieses Mädchen war unmöglich! Und ich hatte sie so lieb dafür!
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Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...