Kapitel 58

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Ich hatte den restlichen Tag bei Erik verbracht. Die meiste Zeit hatten wir uns den Mund fusselig geredet, uns von belanglosen Dingen erzählt und dabei einfach die Anwesenheit des anderen genossen. Als ich ihm von Kilian und mir erzählt hatte, wirkte mein Bruder nicht sonderlich überrascht. Stattdessen hatte er es einfach so hingenommen und war bald auf ein anderes Thema übergegangen. Auf einer Seite hatte mich diese Reaktion verwirrt, auf der anderen war ich wirklich dankbar dafür, dass er nicht sofort einem Großen-Bruder-Instinkt gefolgt war und Kilian aufsuchen wollte, um ihn zur Rede zu stellen oder gar zu einem Duell zu fordern.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, hatte ich das Bedürfnis zu weinen, aus Angst, ich hätte tatsächlich nur von Erik geträumt. Als ich ihn jedoch Sekunden später neben mir liegen sah, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Die Nacht hatte ich bei meinem Bruder bleiben wollen, darum hatte ich, wie früher, bei ihm im Bett geschlafen. Aus dieser Ich-suche-bei-meinem-großen-Bruder-Schutz-Phase würde ich wohl nie ganz rauswachsen. Wenig später brachte ich es endlich über mich Erik allein zu lassen. Auch deshalb, weil nun auch Vater eingeweiht werden sollte, dass sein Sohn lebte. Erik hatte mir erzählt, dass diese Information offiziell erst heute an mich und Vater gegeben werden sollte, aber Kilian es mir und meinem Bruder ermöglichen hatte wollen, erstmal alleine zu sein. Ganz sicher war das die beste Entscheidung, denn hätten Vater und ich ihn gleichzeitig getroffen, hätte vermutlich niemand mehr aufgehört zu heulen. Außerdem hatte ich diese Geschwisterauszeit gebraucht, denn so sehr ich meinen Vater liebte: Geschwisterliebe war nun einmal stärker. Kilian schien das gewusst zu haben. Er schien überhaupt immer zu wissen, was ich brauchte.

Als ich das Zimmer meines Bruders verließ und endlich wieder andere Gedanken zuließ, wurde mir diese Tatsache einmal mehr bewusst. Mein schon ohnehin voller Freude getränktes Herz schien nun beinahe überzulaufen. Noch während ich durch die Flure des Palastes lief, schüttelte ich gedankenverloren den Kopf. Wie konnte ich nur so jemanden wie Kilian verdienen? Als ich hier ankam lag meine Welt in einem Trümmerhaufen, und jetzt...
Ein Seufzer entfuhr mir, doch nicht aus Schwermut sondern vor Glück. Entschlossen stieg ich die unendlich langen Treppen hinauf zur Ebene der Königsfamilie. Als einfache Bedienstete durfte ich das eigentlich nicht, doch wer wollte mich aufhalten? Ich war keine Bedienstete, sondern eine Prinzessin, verflixt! Dieses eine Mal sollte mir mein Titel doch etwas nützen. Selbst überrascht über meine Haltung hielt ich inne. Seit wann war ich so... unbeugsam? Ein Schmunzeln huschte über mein Gesicht. Kopfschüttelnd setzte ich mich wieder in Bewegung und erreichte wenig später die Tür zu Kilians Gemächer. Eine Gänsehaut durchfuhr mich, als ich an das letzte Mal dachte, als ich hier gewesen war. Damals hatte ich dem Prinzen meine Vergangenheit offenbart, ihm von Erik erzählt und in seinen tröstenden Armen gelegen. Lächelnd, aber auch irgendwie nervös klopfte ich an die Tür. Es war noch früh am Morgen, es bestand also durchaus die Chance, dass Kilian noch dort war. Tatsächlich ertönte einige Augenblicke später ein gedämpftes „Herein!", woraufhin ich die Tür öffnete und eintrat. Kilian saß auf seinem Bett und zog sich gerade ein paar brauner Stiefel an. Sein einfaches Hemd und die Trainingshose deuteten darauf hin, dass er gleich Kampftraining hatte. Seine Haare waren leicht zerzaust, vermutlich hatte er sie seit dem Aufstehen noch nicht gerichtet. Es stand ihm allerdings ausgezeichnet. Schon sein bloßer Anblick ließ mich strahlen. Als er seinen Kopf zu mir drehte, hob er überrascht seine Augenbrauen und stand auf. „Oh, Tia! Ich hatte nicht mit dir -"

Ehe er zuende sprechen konnte, war ich zu ihm geeilt bis ich schließlich direkt vor ihm stand, hatte eine Hand in seinen Nacken gelegt, ihn zu mir gezogen und meine Lippen auf seine gelegt. Zuerst war der Prinz überrascht, erwiderte den Kuss jedoch beinahe augenblicklich, als hätte er nur darauf gewartet. Sanft strich er mit dem Daumen über meine Wange und umfasste meinen Kopf, um mich noch näher an sich zu ziehen. Das warme Prickeln, dass sich prompt in meinem Körper ausbreitete, brachte die Freude in meinem Herzen schließlich zum Überlaufen. Wie sehr hatte ich das vermisst! Es war eine Ewigkeit her, seit Kilian mich geküsst hatte. Um genau zu sein, seit dem Ball. Wie hatte ich so lange ohne das hier überleben können? Gierig sog ich den Duft nach Wald und Minze ein und verlor mich im Moment. Erst als uns die Luft ausging, zogen wir uns zurück. „Wow, das war... ich meine, das war fantastisch! Aber... wofür?" fragte er irritiert, aber mit einem Leuchten in den Augen. Grinsend griff ich nach seiner Hand und meinte: „Weil das die beste Art ist, meine Gefühle für dich zu beschreiben und meine Dankbarkeit auszudrücken." Ich hoffte inständig, er las die Aufrichtigkeit in meinen Augen. Dem Glanz in seinen Augen nach tat er es. Lächelnd umfasste er meine Taille und zog mich näher zu sich. Ein schelmischer Ausdruck trat in seine Augen. „So? Könntest du das dann nochmal wiederholen? Ich glaube, ich habe die Botschaft noch nicht ganz verstanden." Augenverdrehend biss ich mir auf die Lippe, musste jedoch grinsen. „Eigentlich hatte ich dich nicht für so begriffsstutzig gehalten, aber na schön!" Augenblicklich küsste ich ihn noch einmal. Kürzer, aber intensiver. Als ich mich wieder von ihm löste, grinste er noch breiter als zuvor. „Ja, ich glaube so langsam verstehe ich, was du mir sagen willst." Es war, als hätte niemals eine Distanz zwischen uns exisitert. Als wären wir seit Jahren schon so nah und vertraut miteinander umgegangen. Und es fühlte sich großartig an.

„Und falls du es jetzt immernoch nicht verstanden hast: Du bist der selbstloseste, warmherzigste, liebenswürdigste Mensch den ich kenne und ich..." Verlegen biss ich mir erneut auf die Lippen, bevor ich den Satz anders zuende brachte als ich eigentlich vorhatte. „... Du bedeutest mir sehr viel. Und ich bin dir unglaublich dankbar für alles, was du für mich getan hast! Du hast mir meinen Vater und..." Ich hielt inne, weil ich die folgenden Worte immernoch nicht glauben konnte. „... und meinen Bruder zurückgebracht." Der Schalk aus Kilians Augen verschwand, dafür strich er mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und meinte ernst: „Du musst dich nicht bedanken, Küchenjunge. Das war das mindeste, was ich tun konnte. Ich habe nur ein Versprechen eingehalten." Irritiert sah ich ihn an. „Welches Versprechen?" „Dich glücklich zu machen." Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. „Ich erinnere mich gar nicht an dieses Versprechen?" Er schüttelte den Kopf. „Kannst du auch nicht. Ich habe es mir selbst gegeben." Mir wurde warm ums Herz, und augenblicklich folgte ich dem plötzlichen Bedürfnis, meinen Kopf an seine Brust zu lehnen. Durch den Stoff des Hemdes konnte ich seinen gleichmäßigen Herzschlag hören, der, wie ich meinte zu hören, bei meiner Berührung kurz aus dem Takt geriet und anschließend etwas schneller schlug. „Dieses Versprechen hast du erfolgreich eingehalten. Auch schon vor der Zusammenführung mit meiner Familie..." flüsterte ich kaum hörbar, doch er nahm es trotzdem wahr. „Da bist du nicht die Einzige. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich glücklicher war, als wenn ich mit dir zusammen bin. Du bist das unglaublichste Mädchen, dass ich je getroffen habe, Küchenjunge." Instinktiv vergrub ich mein Gesicht im Stoff seines Hemds, da ich spürte wie auch mein Herz nun schneller schlug.

„Weißt du, es gab noch einen anderen Grund, wieso ich dir nichts von meiner Herkunft erzählt habe." nuschelte ich in sein Hemd. Ohne etwas zu sagen lehnte sich der Prinz zurück, um mich besser verstehen zu können. „Ich hatte auch Angst, was du dann von mir halten würdest. Dass du vielleicht jemand anderen in mir sehen würdest. Die Prinzessin Tiara, und nicht mehr das Mädchen Tia." Nach einigen Momenten des Schweigens sah ich auf und blickte in ein paar heller brauner Augen, die mich so offen und warm anstrahlten, dass mir ein Schauer über den Rücken jagte. Und ein Lächeln, dass nicht schöner hätte sein können. Statt einer Antwort beugte sich Kilian vor und gab mir einen sanften Kuss auf den Scheitel. Viel zu schnell war der Moment vorbei und Kilian räusperte sich verlegen. „Nun ja, da du schonmal hier bist, kann ich die Gelegenheit ja auch gleich nutzen, um dich auf den bevorstehenden Ball einzuladen." Irritiert hob ich eine Augenbraue. „Was für ein Ball?" Kilian grinste. „Elias und dein Vater waren sich einig, dass die Rückkehr der Herrscherfamilie von Lavinia gebührend gefeiert werden muss. Darum findet in ein paar Wochen ein Ball an der Landesgrenze von Dyandra und Lavinia statt. Wir haben dort eine Sommerresidenz, zu der alle Menschen aus unser beider Ländern eingeladen werden. Jeder soll sich mit uns freuen dürfen!" Konnte zu viel Freude schädlich sein? Wenn ja, war mir das im Moment egal. „Das ist... einfach großartig!" rief ich aus und drückte den Prinzen an mich. Lachend murmelte er in meine Haare: „Bedeutet das, du gehst mit mir als meine Begleitung hin?" Nun lehnte ich mich zurück, um ihn schelmisch anzugrinsen. „Eigentlich hatte ich mir überlegt, deinen Bruder zu fragen. Als Prinzessin muss ich doch die Gelegenheit nutzen, mir einen gutaussehenden König zu angeln!" Mit gespielt empörter Miene zog er mich noch etwas näher zu mir. „Gutaussehend?! Bin ich das etwa nicht?!Die ganzen anderen positiven Eigenschaften gestehst du mir zu, aber Attraktivität nicht? Ich bin schockiert! Doch ich muss dich enttäuschen. Der König mag schon ein anderes Mädchen. Du musst dich leider mit der Zweitwahl zufriedengeben."
Ein gespielter Seufzer enfuhr mir, bevor ich ihn schließlich ernst ansah und seine Hand nahm. „Du warst nie die zweite Wahl."

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt