Kapitel 35

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Es war Vormittag, die Sonne stand bereits am Himmel und eine warme Sommerbrise fuhr durch den Schlosshof. Sofie stand vor einem Seiteneingang und hielt bereits seit einer Stunde nervös Ausschau nach ihren Geschwistern. Da sie den Tag frei bekommen hatte, konnte sie sich nicht mit Arbeit ablenken. Dafür hatte sie ja mich. Ich allerdings hatte nicht frei. Ich musste sogar Sofies Arbeit übernehmen, aber das sagte ich ihr natürlich nicht. Sie sollte sich an ihrem besonderen Tag nicht schlecht fühlen. Normalerweise hatte ich heute Küchendienst, aber Tim war so nett gewesen es irgendwie so zu biegen, dass ich zuvor noch unbedingt die Rosensträucher vor dem Seiteneingang gießen musste. Zufällig der Eingang, an dem Sofies Geschwister ankommen sollten.

Hin und wieder tätschelte ich Sofies Schulter, um ihr zu zeigen, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Sie versuchte sich mir zuliebe an einem Lächeln, es wurde jedoch eher eine Grimasse daraus. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Sofie endlich die erlösenden Worte rief: „Da kommen sie!" Sofort ließ ich von meiner Arbeit ab und sah auf. Ein paar Hundert Meter entfernt, wo ein Wald begann, führte ein Pfad heraus. Auf diesem bewegte sich ein Heuwagen auf uns zu. Darauf konnte ich die Silhouetten von sechs Menschen ausmachen. Sofies Familie musste als Bauern vermutlich nicht genug Geld für eine Kutsche haben, darum musste stattdessen ein anderes Gefährt werden. Nach einigen Minuten hatte uns der Wagen erreicht und kam vor uns zum Stehen. Fünf Kinder stiegen vom Wagen, ehe sich der Besitzer und Steuermann umdrehte und sein Pferd zum Weiterreiten antrieb. Drei Jungs, zwei Mädchen. Sie alle trugen schlichte Bauernkleidung, doch ihr breites Lächeln strahlte wie Sterne. Mit glänzenden Augen stürmten sie alle gleichzeitig auf ihre große Schwester zu und warfen sich in ihre Arme. „Sofie!" riefen ihre Stimmen durch den Chor. Jegliche Anspannung war aus Sofies Gesicht gewichen und machte stattdessen einem ebenso strahlenden Lächeln Platz. „Wie schön, euch zu sehen!" brachte sie hervor und drückte den Haufen aus kleinen Armen und Beinen an sich. „Wir haben dich soooo vermisst!" meinte eines der Mädchen mit einem Schniefen. Sofie murmelte etwas ähnliches, bevor die Gruppenumarmung sich löste. „Lasst euch ansehen!" meinte Sofie schließlich, der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Meine Güte, ihr seid so groß geworden!"

Sie hatte ihre Geschwister nur einmal in den letzten drei Jahren sehen dürfen. Wie sehr sie sie vermisst haben musste! Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete ich das Bild. Nachdem ein paar Momente des Schweigens vergangen waren, schien meiner besten Freundin einzufallen, dass ich ja auch noch da war. Sofort zog sie mich am Handgelenk etwas näher zu sich und ihren Geschwistern. „Ich möchte euch jemanden vorstellen." sagte sie mit feierlicher Stimme. Neugierig beobachteten mich ein paar Augen. „Das ist Tia. Meine beste Freundin!" Anschließend stellte sie mir ihre Geschwister vor: Die zwei Jüngsten waren die Zwillinge John und Marlon. Sie waren sieben Jahre alt und besaßen dieselben, wunderschönen roten Locken wie ihre große Schwester. Sie schienen auch die Aufgewecktesten der Truppe zu sein. Die nächstältere war die neun Jahre alte Charlotte, mit blasser Haut und hellblonden Zöpfen. Danach kam die elfjährige Gemma, die ebenfalls die gleichen Haare wie Sofie hatte. Der Älteste der Geschwister war der 14 - jährige Hendrik. Er hatte dunkelblonde, glatte Haare und dieselben hellblauen Augen wie Sofie. Er schien sehr zurückhaltend zu sein.  Ob das an seinem Alter oder seinem Charakter lag, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls gab er mir nur stumm die Hand und nickte mir zu, während die anderen Geschwister mich und Sofie nun mit Fragen löcherten.

Einer der Zwillinge zupfte an meinem Rock. „Bist du die Stumme?" fragte er mit großen Kinderaugen. Sie waren keineswegs spöttisch oder verachtend, wie ich es sonst kannte. Sie strahlten eher voller Neugier. „Marlon!" schimpfte Sofie. Es war ihr peinlich, dass er so direkt sprach. Grinsend beobachtete ich ihr Gesicht. Dabei hatte sie mir doch bei unserer Begegnung mit derselben Neugier in den Augen dieselbe Frage gestellt. Da kam wohl die große Schwester in ihr raus. Ich hob beschwichtigend die Hände und nickte Marlon dann lächelnd zu. Da sah ich, wie die jüngere der beiden Schwestern, Charlotte, nach der Hand meiner besten Freundin griff und sie fragte: „Können wir jetzt unser Zimmer sehen?" „Au ja!" warf die zwei Jahre ältere Gemma ein. „Und zeigst du uns dann das Schloss? Und erzählst vom König? Und dem Prinzen? Und den Adligen hier?" Augenblicklich waren alle Augen auf Sofie gerichtet, die sich lachend ergab. „Natürlich, versprochen!" Glücklich brabbelten alle Kinder durcheinander, schnappten sich ihre Säcke mit ihrem Habgut darin und folgten ihrer großen Schwester ins Schloss. Ich verabschiedete mich von ihnen, denn auf mich wartete Arbeit. Doch ich versprach meiner besten Freundin, heute Abend zu ihnen zu stoßen.

Auf meinem Rückweg streifte ich durch einen der Gänge im Schloss und stolperte dabei über den König. Nun ja, ich war nicht richtig gestolpert. Mehr bin ich an ihm vorbeigelaufen und habe es zu spät bemerkt, weshalb ich mich nochmal umdrehte. Der König schien mich gar nicht bemerkt zu haben, denn er sah aus einem der Glasfenster auf den Schlosshof hinaus und schien in Gedanken versunken. Dabei lächelte er jedoch. Vorsichtig schritt ich näher heran und sah ebenfalls aus dem Fenster. Ich konnte vier rote und zwei blonde Schöpfe ausmachen, die Richtung Dienstboteneingang liefen. Als mein Blick wieder zum König schweifte, musste ich ein wenig grinsen. Wenn ich richtig lag, betrachtete er das Lächeln eines ganz bestimmten Rotschopfes. Leise ging ich weiter und hing meinen Gedanken nach. Konnte das sein? Konnte der König Gefallen an Sofie gefunden haben? Möglich war es, das stand außer Frage. Gründe gab es genug dafür, sich in Sofie zu verlieben. Allerdings war meine Menschenkenntnis nicht die Beste, und selbst wenn ich Recht hatte, befanden sich die Beiden noch ganz am Anfang. Sie hatten sich schließlich noch nicht näher kennenlernen können. Aber wenn es so sein sollte, wenn es für die Beiden eine Zukunft gab, dann hoffte ich inständig sie würden ihr Glück finden.

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