Kapitel 21

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„Soso, du hast mich also schon ersetzt!" Mit einem Schmollmund und verschränkten Armen sah Sofie mich von ihrem Bett aus an. Ich wollte widersprechen, doch sie ließ mir keine Zeit. „Nein, nein, ich versteh schon! Ein heißer Prinz, der sich wie ein Stinkstiefel verhält, ist natürlich eine viel bessere Wahl als beste Freundin! Häng nur weiter so mit ihm rum!" Augenrollend schrieb ich hastig auf mein Notizbuch. Ich hatte Sofie von dem Vorfall mit Prinz Kilian heute erzählt, und naja, ihre Reaktion war ziemlich übertrieben wie man sah. Seufzend hielt ich ihr den Zettel hin.

Erstens benimmt sich der Prinz doch schon länger nicht mehr wie ein Stinkstiefel.

Meine Mitbewohnerin wiegte den Kopf hin und her, bevor sie maulte: „Jaaaa na guuut, er hat in letzter Zeit vielleicht ein bisschen bessere Manieren gezeigt..."

Zweitens ist er nicht heiß.

Nun weiteten sich ihre Augen empört. „Also bitte, wenn du ihn nicht heiß findest, dann bist du nicht nur stumm sondern auch blind!" Augenverdrehend nahm ich eine genervte Haltung ein. Gleichzeitig musste ich ein Grinsen unterdrücken, denn zum einen gefiel es mir, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm und um das Thema „Stumm sein" genauso herumschlich als sei es eine Krankheit. Zum anderen aber musste ich mir eingestehen, dass der Prinz tatsächlich nicht schlecht aussah. Sogar besser als nicht schlecht... Sofie schien mich durchschaut zu haben, denn sie grinste triumphierend. „Aha! Ich habs gewusst! Du findest ihn auch heiß!" Ihren letzten Kommentar ignorierend schrieb ich:

Und drittens kann niemals jemand eine so tolle Freundin wie dich ersetzen.

„Aaaawww!" Sie kletterte rüber auf mein Bett und umarmte mich erfreut.

Außerdem könnte ich mit dem Prinzen niemals so peinliche Gespräche führen.

Wir sahen uns an, dann grinsten wir. „Stimmt!" sagte Sofie lachend. Wir redeten noch ein bisschen, bevor wir schließlich müde einschliefen.

Papa kam angerannt und rief mich zu sich. Verwirrt lief ich zu ihm und erschrak als ich Tränen in seinen Augen sah. „Was ist los, Papa?" Er sah verstört aus. Hilflos, und... ängstlich. Das machte mir ebenfalls Angst. „Mama..." begann er. „Mama geht es schlechter. Sie...sie wird...du solltest sie nochmal sehen. Komm!" Meine zierliche Hand ergriff die meines Vaters. Gemeinsam rannten wir in das Schlafzimmer, in dem Mama auf einem Bett lag. Ein paar andere Menschen standen um ihr Bett herum, auch Erik, doch ich nahm sie nicht wahr. Ich sah nur Mama, wie ihr bleicher, schwacher Körper dalag und kaum Kraft hatte die Augen offen zu halten. Ich weigerte mich zu verstehen, was vor sich ging. Alles, was ich verstand war, dass es Mama nicht gut ging. Und dass etwas schlimmes passieren würde. Als meine Mutter mich sah, lächelte sie müde. Es war ein Lächeln voller Erschöpfung und Schuldgefühlen, aber auch von Stolz und Zufriedenheit. Ängstlich rannte ich zu ihr ans Bett und griff nach ihrer Hand. „Mama!" Mit einer Hand strich sie über mein Haar. „Mein liebes Kind..." Ihre Stimme war leise und schwach. Mich ergriff Panik, und ich wollte nicht wahrhaben wieso. „Ich hab Angst!" sagte ich hilflos. Sie lächelte beruhigend. „Das brauchst du nicht. Ich werde immer bei dir sein, ganz egal was passiert. Ich hab dich unendlich lieb und bin unglaublich stolz auf dich. Das darfst du nie vergessen, okay?" Ich nickte, auch wenn ich ihre Worte nicht verstand. Nicht verstehen wollte. Mit der Verzweiflung einer 14-jährigen kletterte ich auf ihr Bett und kuschelte mich zu ihr. Zärtlich strich sie mir über das Haar. Ich weinte, und auch sie vergoss ein paar Tränen, bis ihre Brust irgendwann aufhörte sich zu heben. Tränenüberströmt schrie ich nach ihr, doch sie regte sich nicht mehr. Jemand versuchte mich wegzuziehen, doch ich ließ nicht los sondern schrie um Hilfe, klammerte mich an meine Mama und weinte bis in die Nacht hinein.

„Tia!" Erschrocken riss ich meine von Tränen verklebten Augen auf. Sofie saß an meinem Bettrand und strich mir sanft über die Arme. Da bemerkte ich, dass ich zitterte. „Alles in Ordnung?" fragte meine Freundin vorsichtig. Ich schüttelte den Kopf und schloss erschöpft die Augen. Nein, gar nichts war in Ordnung. „Es war nur ein Traum." versuchte Sofie, die sichtbar besorgt um mich war, mich zu beruhigen. Um sie nicht weiter zu beunruhigen, nickte ich und setzte mich auf. Dann zwang ich mir ein kleines Lächeln ab. Zusammen wuschen wir uns und zogen uns an. Dabei erholten sich meine Körperfunktionen. Das Zittern hatte aufgehört und ich erschien äußerlich wieder völlig ruhig, innerlich war ich jedoch vollkommen aufgewühlt. Sofie bot mir an meine Haare zu flechten. Dankbar nahm ich ihr Angebot an. Während sie sich an die Arbeit machte, kreisten  meine Gedanken immer wieder um den Traum.

Es war nicht Zufall, dass ich diesen Traum genau jetzt hatte. Dieser Traum traf  mich genau einmal im Jahr, an einem ganz bestimmten Tag. Und der war heute. Ich hatte es in den letzten Tagen verdrängt, doch nicht heute. Der Traum sorgte stets dafür, dass ich ihn nicht vergaß. Ihren Todestag. „Sooo... fertig!" holte mich Sofies Stimme aus meinen Gedanken. Mit einem halben Lächeln dankte ich ihr, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg in die Küche machten.
Den Vormittag über sprachen wir nicht viel miteinander. Wir waren mit Wasser aufkochen, Gemüse schneiden und dem Abwasch beschäftigt. Zudem schien Sofie zu merken, dass mit mir heute etwas nicht stimmte und ich Abstand brauchte. Dafür war ich ihr auch wirklich dankbar, denn an diesem einen Tag im Jahr war es mir unmöglich mich auf etwas zu konzentrieren. So war es auch heute. Sehnsüchtig erwartete ich den Mittag, bis ich endlich in die erlösende Pause fliehen durfte.

So schnell ich konnte lief ich in einen hinteren Teil des Schlossgartens, um niemandem zu begegnen. Als ich mich schließlich im Schatten der Bäume sicher vor ungewollten Blicken fühlte, atmete ich erleichtert aus. Den ganzen bisherigen Tag hatte ich mich zusammenreißen müssen, nun konnte ich meiner inneren Unruhe zumindest für ein paar Momente freien Lauf lassen. Langsam setzte ich mich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt auf den Boden. Dann griff ich nach der Kette an meinem Hals und öffnete den Anhänger, um auf dem Bild darin die hellblonde Frau zu betrachten. Eine einzelne Träne löste sich aus meinem Auge und lief meine Wange hinunter. Ich konnte noch nicht einmal ihr Grab besuchen. Was war ich nur für eine Tochter! Statt an ihrem Todestag zu ihrem Grab zu gehen und sie mit Blumen zu ehren, befand ich mich in einem anderen Land! Ein Seufzer entwich mir, bevor ich erneut das Bild betrachtete. Drei Jahre war es nun schon her, seit sie gestorben ist. Drei Jahre... Dabei fühlte es sich an, als sei es erst wenige Monate her. Mit ihrem Tod begann mein Leiden, das vor einem halben Jahr seinen Höhepunkt fand, wo ich schließlich alles verloren hatte, was ich liebte. Eine weitere Träne löste sich aus meinen geschlossenen Augen.
Da hörte ich plötzlich eine Stimme.
„Was machst du hier?"

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt