Kapitel 27

527 20 0
                                    

Elias Sicht:
Gerade hatte ich ein Meeting mit einigen Beratern beendet und begab mich in meine Gemächer. Auf dem Schreibtisch lagen noch einige Dokumente zur Korrektur und Signatur von heute Morgen, die ich noch nicht bearbeitet hatte. Bis zu meinem nächsten Termin war noch ein wenig Zeit, also beschloss ich statt einer Pause zu machen noch die restliche Arbeit zu erledigen. So setzte ich mich mit einem kleinen Seufzer an den Schreibtisch und kümmerte mich um die Papiere. Eine halbe Stunde später war ich fertig und lehnte mich erleichtert in meinem Stuhl zurück. Dabei fiel mein Blick auf die goldene Uhr an der Wand. Es war bereits Zeit für meinen nächsten Termin.

Normalerweise hätte ich mich ergeben aufgerafft und mir auch noch den letzten Punkt des Tages vorgenommen. Man soll mich nicht falsch verstehen: Ich liebte meine Arbeit als König und ebenso die Tatsache, dass ich meinem Land und Volk auf diese Weise viel Gutes tun kann. Aber die Büroarbeiten waren oft hart und langwierig, und hinzu kam, dass ich mich manchmal alleine fühlte. Sicher, Mutter kümmerte sich gut um mich und unterstützte mich wo sie konnte, doch sie war keine Person mit der man viel Zeit verbringen konnte. Und sie verstand nicht, wie es war, wenn das Vertrauen von einem ganzen Königreich einem auf den Schultern lag und man mit diesem Bewusstsein alleine fertig werden musste. Vater dagegen hätte es verstanden. Er hatte damals bei seiner Regentschaft immer alle Arbeit auf sich genommen weil er nicht wollte, dass Mutter zu sehr belastet wurde. Trotzdem war er immer für uns da und hat sich immer Zeit für seine Familie genommen. Wenn es Probleme gab, konnte ich immer mit ihm reden. Wir waren eine glückliche Familie. Niemand hat sich alleine gefühlt, auch ich nicht. Ich habe mich immer beschützt gefühlt und dachte, dass Vater mich eines Tages, wenn ich auf dem Thron saß, beraten wird und immer ein offenes Ohr haben würde. Und dann verlief alles ganz anders... Plötzlich waren wir alleine. Wir alle.

Mutter hatte ihren geliebten Gatten verloren, und Kilian und ich einen liebenden Vater und Freund. Doch warum klagte ich eigentlich? So sehr er mir auch fehlte, ich wusste, dass Kilian damit am meisten zu kämpfen hatte. Er hatte damals die engste Beziehung zu Vater. Als kleines Kind wollte er ihm ständig bei irgendetwas helfen und ihn nachahmen. Ich lächelte bei der Erinnerung. Vor dem Tod des Königs waren auch mein Bruder und ich noch viel mehr verbunden gewesen. Aber in den letzten Jahren hatte sich das geändert. Kilian hatte sich geändert. Es schien als habe er den Glauben an sich verloren und sich selbst weggeworfen. Und er hatte sich von mir distanziert, von mir und Mama. Ich wusste nicht was der Grund war, ich vermutete dass es an der Trauer über Vaters Tod lag. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es auch mit mir zu tun haben musste. Immer wieder habe ich in den letzten Jahren versucht, zu ihm durchzudringen, aber er hat sich nur noch mehr verschlossen und sich benommen wie jemand, der er gar nicht war. Und es tat mir immer weh.

Bis auf die letzten Wochen. Etwas hatte sich verändert. Er schien sein Amt als Prinz plötzlich ernst zu nehmen. Zwar verschwand er immernoch häufig vom Schloss, doch in der Zeit in der er hier war nahm er seine Aufgaben ernst. Er nahm an Konferenzen teil, informierte sich und bot sich sogar als Berater an. Auch einige meiner Aufgaben hatte er übernommen um mich zu entlasten. Und unsere Beziehung zueinander schien ebenfalls besser zu werden. Er wies mich nicht mehr ab, wenn ich auf ihn zuging und kam sogar ab und an von selbst auf mich zu. Diese letzten Wochen gaben mir seit so vielen Jahren zum ersten Mal Hoffnung, dass ich meinen Bruder zurückbekommen könnte. Darum hätte ich auch normalerweise voller Seufzer den nächsten Tagespunkt in Angriff genommen, doch diesmal nicht. Diesmal freute ich mich sogar darauf, denn mein Termin bestand aus meinem Schwertkampftraining. Mit Kilian.

Mit einem leisen Lächeln nahm ich meine Trainingsklamotten aus dem Kleiderschrank und zog mich um. Ein lockeres, weißes Leinenhemd und eine hellblaue Hose. Ich hatte bereits seit Jahren Training mit meinem Bruder zusammen, doch bis vor ein paar Wochen war er entweder nicht erschienen oder ignorierte mich vollkommen und übte alleine. Tja, und seit einigen Wochen übten wir zusammen. Und es machte Spaß. Darum freute ich mich immer auf diese Art von Terminen. Bevor ich mein Zimmer verließ griff ich noch schnell nach dem Holzstock, der im Training als Schwertersatz diente, und lief dann hinaus auf den Flur. Der Trainingsraum befand sich im dritten Stock, das bedeutete ich musste einige Treppen nach unten laufen. Auf der Treppe vom vierten ins dritte Stockwerk hatte ich es wohle etwas zu eilig, denn als ich rasch um die Ecke bog stieß ich mit einem riesigen sich auf mich zu bewegenden Wäscheberg zusammen.

Beim Aufprall wurde ich nach hinten gestoßen und fiel hin. So auch der Wäscheberg, der in viele kleine Stoffhügel zerfiel. Und unter den Stoffhügeln bewegte sich etwas. Erst jetzt begriff ich, dass jemand einen Korb voll Wäsche getragen hatte und ich diese Person versehentlich umgeworfen hatte. Hastig stand ich auf und kniete mich zu der Person, um ihr zu helfen sich von den Laken zu befreien. Als ich das letzte Stoffteil auf die Seite zog, erschien ein sehr hübsches Gesicht mit heller Haut und markanten Gesichtszügen, das mich mit einem paar strahlend hellblauer, ausdrucksstarker Augen ansah. Das Gesicht wurde von ein paar kupferfarbenen Locken umrahmt, die sich aus dem gebundenen Zopf gelöst hatten. Das Mädchen starrte mich mit großen Augen an. „E-eure Hoheit! Ich bitte vielmals um Verzeihung, ich -" „Bitte nicht!" warf ich schnell ein und bot ihr meine Hand als Hilfe, um aufzustehen. „Ich bin es, der sich entschuldigen muss. Ich bin zu hastig die Treppen hinuntergelaufen und habe dich dabei nicht gesehen. Bitte verzeih mir." Sie nahm meine Hand und ich half ihr aufzustehen. Anschließend deutete ich als Entschuldigung eine Verbeugung an.

Als ich wieder aufsah, starrte sie mich ungläubig an. Dabei färbten sich ihre Wangen in einem zarten rosa. Die hellen Augen schienen umso mehr zu strahlen. Da fiel mir das Wäschechaos um uns herum ein und ich griff schnell nach ein paar Stoffen. „Oh nein, Ihr müsst doch nicht..." begann das Mädchen vor mir und beugte sich hastig, um ebenfalls ein paar Wäschestücke einzusammeln. „Nicht doch, das ist das Mindeste, was ich tun kann." erwiderte ich lächelnd, um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht zu sorgen brauchte. Auf meinen Blick hin erwiderte sie mein Lächeln schüchtern. Es machte ihr Gesicht nur noch hübscher. Zusammen sammelten wir die restliche Wäsche ein und legten sie wieder in den Korb. Dann nahm das Mädchen ihn hoch und verbeugte sich nochmal. „Vielen Dank, Hoheit" sagte sie dabei aufrichtig. Wider lächelte ich. „Gerne doch. Noch einen schönen Tag wünsche ich dir!" Sie erwiderte den Gruß, bevor sie mit gesenktem Kopf an mir vorbeilief und hinter der nächsten Ecke verschwand.

Kopfschüttelnd, aber lächelnd ging ich die restlichen Schritte bis zur Trainingshalle. Dort stellte ich mich auf eine der Matten und wartete auf meinen Bruder, doch es kam niemand. Irritiert wartete ich weiter, doch die Tür öffnete sich nicht. Ein wenig war ich beunruhigt. Fiel er wieder in seine alten Gewohnheiten zurück? Gerade als ich es aufgeben wollte zu warten, ging die Tür auf und Kilian kam hereingehechtet. Ich verschränkte die Arme. „Regel Nummer 13, Absatz zwei: Ein Mitglied der Königsfamilie kommt niemals zu spät." Auf mein Zitat aus dem Buch der Etikette verdrehte der Prinz nur die Augen, fasste seinen Stock richtig und ging in eine kampfbereite Stellung. „Regel Nummer 11: Ausnahmen bestätigen die Regel." Interessiert hob ich eine Augenbraue. „So? Und was war dieser Ausnahmefall?" Er antwortete nicht, sondern konzentrierte sich auf meine Bewegungen. Nun war ich wirklich interessiert. Herausfordernd ging ich in Angriffsstellung. „Gut, also wenn ich diesen Kampf gewinne, sagst du mir was los ist." Unbeeindruckt meinte er: „Dafür musst du erst mal gewinnen." Kaum hatte er das gesagt, schoss er mit einen Fuß vor und hob den Arm mit dem Stock. Gerade so konnte ich den Schlag parieren. Der Kampf begann.

Normalerweise war Kilian der deutlich bessere von uns im Schwertkampf, heute jedoch schien er irgendwie unkonzentriert. Seine Bewegungen waren langsamer, er reagierte nicht so schnell. Darum gelang es mir nach ein paar Minuten einen Schlag zu tätigen, den er nicht abwehren konnte. So überwältigte ich ihn. Schließlich endete es damit, dass er auf dem Boden lag und ich ihm den Stock an den Hals hielt. Er war besiegt. Das kam nicht oft vor. Etwas war definitiv im Busch. „Bin gespannt auf deine Erklärung!" grinste ich und hielt ihm etwas schwer atmend eine Hand hin. Er nahm sie und zog sich hoch. Zusammen liefen wir auf eine Ecke in der Halle zu, in der unsere Wasserflaschen standen. Als wir getrunken hatten, fragte ich abwartend: „Alsooo?" Er seufzte, bevor er antwortete: „Ich hab noch nach jemandem gesucht." Ich stutzte. „Nach einem der Minister?" Er schüttelte den Kopf. Da wusste ich es plötzlich. So wie er es formuliert hatte, ließ es nur einen Schluss zu. „Aaahh, nach einem Mädchen!" stellte ich grinsend fest. Ruckartig drehte er sich zu mir. „Was?! Nein! Also schon, aber nicht so, wie du denkst. Ich hab sie nur seit gestern nicht mehr hier gesehen und hab mir Sorgen gemacht, ob ihr vielleicht was passiert sein könnte." Immernoch musste ich grinsen. „Verstehe. Du magst sie."

„Hör auf! Das ist lächerlich. Lass uns weiter kämpfen..." Damit wandte er sich ab und ging wieder auf die Matte zu. Ich folgte ihm, konnte dennoch nicht aufhören an seine Worte zu denken. „Diesmal gewinne ich!" prophezeite er zuversichtlich. „Wir werden sehen." Mein Bruder mochte ein Mädchen. Das war offensichtlich, so sehr er es auch leugnete. Und wenn ich so darüber nachdachte, war das auch eine durchaus logische Erklärung für die plötzliche Änderung seines Verhaltens. Ich freute mich für ihn, ehrlich. Im Stillen dankte ich diesem Mädchen, wer immer sie auch war, dafür, dass sie ihm guttat. Anschließend wandte ich mich lächelnd wieder meinem Bruder zu und ging in kampfbereite Stellung.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt