Kapitel 55

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Eine Woche war seit dem Angriff vergangen. Seitdem war viel passiert. Der König hatte sein Volk über die Rebellen aufgeklärt und ihnen versichert, dass nun keine Gefahr mehr bestünde. Tatsächlich waren die gefangenen Rebellen ziemlich redselig gewesen, als man ihnen mit dem Galgen drohte, und so konnten alle Anhänger ihrer kranken Fantasie geschnappt und hinter Gitter gebracht werden. Und ich hatte mein Gespräch mit Sofie. Gleich am nächsten Tag bin ich auf sie zugegangen und habe mit dem Satz: „Ich muss dir was sagen..." angefangen. Meine beste Freundin hatte sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und sich neben mich aufs Bett gesetzt. Abwartend hatte sie mich angesehen, bis ich schließlich weitersprach. „Ich hab mich gestern ziemlich seltsam verhalten, ich schätze das hast du bemerkt." „Meinst du den  Teil, wo du Hals über Kopf in die Gefahr gerannt bist oder den Teil, als du mit mir durch das Schloss gehetzt bist nachdem du die Männer gesehen hast, so als hättest du genau gewusst was jetzt kommt?" Schwach lächelte ich sie an. „Beides." Wie sie schon mal sagte: Sie mochte eine Bedienstete sein, aber dumm war sie ganz sicher nicht. „Für dieses Verhalten gab es einen Grund. Ich bin nämlich..." Tief holte ich Luft. „...nicht die, für die du mich hälst." Wie selbstverständlich hakte Sofie nach: „Du meinst, weil du eigentlich die Prinzessin von Lavinia bist?" Einige Sekunden war es still, bevor ich verblüfft antwortete: „Woher -" Als wäre es das Natürlichste der Welt, das mein wohlgehütetes Geheimnis so offensichtlich für sie war, fuhr sie fort: „Naja, du hattest dich von Anfang an schräg verhalten. Ich meine, du bist so alt wie ich und hast noch nie gearbeitet?! Das war schon ziemlich verdächtig. Außerdem bist du ganz anders gegangen als die anderen Mädchen. Du hattest dieses stille, hoheitsvolle Etwas an dir. Ich gebe zu, dass mir das alles aufgefallen ist, ich aber trotzdem nicht gewusst habe, wer du tatsächlich warst. Als ich die Narbe an deinem Handgelenk gesehen hatte, wollte ich auch nicht weiter nachhaken. Ich dachte, du würdest auf mich zugehen wenn du so weit wärst."

Sie unterbrach sich selbst und schien plötzlich etwas verlegen. „Aber dann... am Abend von dem Ball, nachdem du gegangen bist, war ich neugierig. Du hattest immer dein Medaillon um und hast es behandelt als sei es das Wertvollste auf der Welt. Als es dir so schwer gefallen ist, es abzustreifen, bin ich neugierig geworden. Ich hab versucht, dem Drang zu widerstehen, aber es ging nicht. Schließlich hab ich in die Schublade gegriffen und das Medaillon herausgenommen. Und naja, das Bild darin hat eine eindeutige Sprache gesprochen. Ich war ziemlich überrascht, aber gleichzeitig hat es so viel Sinn gegeben. Aber nun... wusste ich nicht mehr, wie ich dich behandeln sollte. Deshalb bin ich erstmal auf Distanz gegangen. Als du dich in den folgenden Wochen aber nicht verändert hast, wurde mir klar, dass sich das auch mit einem Titel nicht ändern würde." Sie schluckte, bevor sie meine Hand ergriff und mich flehend ansah. „Es tut mir Leid, wirklich! Ich hätte mich nicht in deine Privatsphäre einmischen dürfen. Und ich wollte es dir sagen, aber wir wurden immer unterbrochen..." Schweigend hatte ich ihrem Geständnis gelauscht: Nun ergab auch Sofies Verhalten für mich Sinn. Und ganz ehrlich? Ich konnte ihr nicht böse sein. Im Gegenteil: Irgendwie war ich erleichtert, dass sie sich schon an diese Tatsache gewöhnen konnte. Lächelnd nahm ich sie in den Arm und erzählte ihr genau das. Sie war überrascht, aber erleichtert. Anschließend berichtete ich ihr, was es mit den Rebellen auf sich hatte und... wieso ich alleine, ohne meine Familie, hierher kam. Ich erzählte es nicht so ausführlich wie bei Kilian, aber genug. Sofie war erschüttert und nahm mich am Ende in den Arm. Diesmal war es mir sogar gelungen, keine Träne zu vergießen. Auch wenn es deshalb nicht weniger wehtat.

Tja und nun, eine Woche später, hätte man meinen können alles wäre wieder beim Alten. War es aber nicht. Heute Morgen hatte ich eine Nachricht erhalten, dass der König mich sprechen wollte. Ich war etwas irritiert, hatte aber zugesagt. Als ich im Thronsaal ankam stand bereits Elias dort, der sich mit einem Mann unterhielt und, als er mich sah, lächelnd auf mich zukam. „Hallo, Tia. Wie geht es dir?" Noch verwirrter als zuvor antwortete ich: „Ähmm... gut? Danke. Und dir?" Er lächelte, als er meine Verwirrung erkannte. „Entschuldige, dass ich dir noch nicht sagen konnte, worum es geht." Nun deutete er auf den Herr neben sich, der mich interessiert gemustert hatte. „Darf ich vorstellen: Das ist Karl Rosement. Vielleicht kennst du ihn ja schon." Ich sah ihn mir genauer an, dann ging mir ein Licht auf. „Sie... Sie sind einer unserer Minister aus dem Rat von Lavinia, nicht wahr?" Er nickte und verbeugte sich. „So ist es, und ich freue mich, Euch nach all diesen Monaten wohlbehalten wiederzusehen, Prinzessin." Ich lächelte, verstand jedoch immer noch nicht, was das hier alles sollte. „Rosement wurde von mir hierhergebeten, nachdem wir uns sicher waren, dass die Gefahr vorbei ist und das Ganze sicher ablaufen kann." „Das Ganze?" fragte ich irritiert. Rosement nickte und antwortete: „Der König hielt es für eine gute Idee, einige Mitglieder aus dem Rat Lavinias an einem Ort zu vereinen, damit besprochen werden konnte, was als nächstes passieren soll." Das klang logisch. Aber ich war kein Ratsmitglied, also was machte ich hier? Genau das fragte ich auch Elias. Er grinste nun fast. „Naja, bei einem Ratsmitglied dachten wir, du würdest ihn gerne selbst in Empfang nehmen." Bevor ich weiter nachhaken konnte, ging eine Seitentür auf und eine Wache trat mit einem älteren Mann herein. Nein. Das war nicht möglich.

Als der Mann mich sah, traten ihm die Tränen in die Augen. „Tia? Mein Kind, bist du es wirklich?" Es war mein Vater. Das war seine Stimme, seine Augen, die mich anstrahlten. Sofort vergaß ich alle anderen um mich herum und rannte auf ihn zu. Sobald ich ihn erreicht hatte, fiel ich ihm um den Hals. Er drückte mich ganz fest an mich. Dabei flüsterte er immer wieder: „Oh mein Kind! Mein kleines, liebes Mädchen..." Ich konnte nicht antworten. Stattdessen sog ich seinen Duft ein und vergrub mich ganz in seinen Armen. Es war hier. Es ging ihm gut. Nach einer Ewigkeit, in der wir uns einfach festhielten, lehnte Vater sich schließlich etwas zurück. „Lass dich ansehen!" meinte er und fuhr mir mit einer Hand durch das Haar. Auch ich musterte ihn nun genauer. Er war etwas dünner geworden und in seinem Gesicht zeigten sich ein paar kleine Fältchen mehr. Womöglich war auch sein kurzes Haar etwas heller, aber sein Lächeln war immernoch das gleiche. „Du bist in den letzten Monaten noch schöner geworden!" bemerkte er mit Stolz in der Stimme und sah mich liebevoll an. Gerade wollte ich ihm antworten, als Elias sich meldete: „Wir ziehen uns nun zurück und geben euch etwas Freiraum. Wenn ihr etwas braucht..." Mein Vater nickte dankbar, bevor sich Rosement und der König aus dem Saal begaben. Nun waren wir alleine. Vater wandte sich wieder mir zu. „Nun sag mir: Geht es dir gut? Haben sie dich hier auch gut behandelt? Der König sagte, du seist als eine Dienstmagd hier angestellt gewesen." Seine Züge wurden etwas kritischer. Natürlich gefiel ihm der Gedanke nicht, dass seine Tochter minderwertig behandelt hätte werden können. Darum schüttelte ich schnell den Kopf und antwortete ihm in Gebärden. Er schien noch nichts von meinem Sprechen zu wissen, und ich wollte ihn nicht gleich damit überfallen.

Nein, Papa. Mir geht es hier sehr gut. Zwar bin ich hier angestellt, aber der König behandelt hier wirklich jeden mit Respekt.

Er nickte erleichtert. „Da bin ich aber froh!"

Aber Papa?

„Ja?"

Ich... Etwas hat sich hier verändert.

Irritiert sah er mich an, unschlüssig ob er besorgt sein sollte. „Und was?" Lächelnd erwiderte ich: „Naja, ich trage nicht wirklich edle Kleider." Fassungslos sah mein Vater mich an. Dann breitete sich ein überglückliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Ist es wirklich wahr? Sprichst du wieder?" Grinsend erwiderte ich: „Ja." „Tu es nochmal." Lachend nahm ich ihn erneut in den Arm. Er drückte mich ganz fest an sich, sodass ich etwas nasses an meiner Wange fühlte. Vater weinte. „Ich dachte, ich hätte dich verloren..." Kopfschüttelnd klammerte ich mich an ihn und flüsterte, nun überhaupt nicht mehr so fröhlich wie zuvor: „Ich bin noch hier..." Nun brachen wir beide in Schluchzer aus. Die nächsten Minuten lagen wir uns einfach stumm im Arm und weinten zusammen.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt