Kapitel 25

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Zuerst sehe ich nichts. Dann, von irgendwo eine Stimme. Sie ist leise, aber drängend.

„Wir müssen hier weg!"

Schritte. Schreie. Alles durcheinander.

„Tia, pass auf!"

Ich drehe mich um. Ein erhobener Arm mit einer Peitsche in der Hand. Ein Schlangentatoo am Hals. Ein hässliches, selbstgefälliges Grinsen im Gesicht.

Das Bild ist weg. Nur noch Schwärze. Umso besser höre ich, was passiert.

„Neeeeein!" Ein Knall. Durch meinen Arm jagt plötzlich ein Feuer aus Schmerzen, doch ich bekomme davon in dem Moment nichts mit. Ich höre nur den Schrei. Immer wieder. Und das Bild, dass sich mir bietet. Ein schmerzverzerrtes Gesicht. Blut, überall Blut. So viel Tod. Hände greifen nach mir, gehen mit Messern und Schwertern auf mich los und ich schreie. Ich schreie und winde mich, solange bis ich schließlich aufwache.

Als ich diesmal aufwachte, setzte ich mich nicht sofort auf. Dazu hatte ich keine Kraft. Ich riss lediglich meine Augen weit auf und starrte einige Minuten schwer atmend an die Decke, um mich davon zu überzeugen, dass es nur ein Traum war. Ein Blick zu Sofie zeigte mir, dass ich sie nicht geweckt hatte. Zuerst dachte ich daran, einfach wieder einzuschlafen, doch mir war bewusst dass das nicht funktionieren würde. Zudem war mir schlecht von den grausamen Bildern aus meinem Traum, und die warme Luft drohte mich zu ersticken.

Also zog ich mir eine leichte Jacke an und schlüpfte in meine Schuhe, bevor ich leise das Zimmer verließ und nach draußen eilte. Wie auch das letzte Mal machte ich im Garten Halt. Dort atmete ich die kühle Luft ein. Dabei hielt ich jedoch strikt die Augen offen, um unter keinen Umständen erneut die grausamen Bilder vor meinem inneren Auge sehen zu müssen. Stattdessen starrte ich ins Leere, und versuchte an nichts zu denken. Es gelang mir nicht.

Immer wieder zuckten Momente durch mein Bewusstsein. Nach ein paar Minuten hatte sich mein Körper zum Glück so weit erholt, dass ich die meisten Bilder „vergessen" hatte. Nur noch eines blieb in  meinen Gedanken, so sehr ich auch versuchte es zu verdrängen. Dieses Gesicht... der schmerzverzerrte Ausdruck... Er ging mir immernoch durch Mark und Knochen.

Als ich etwas nasses auf meiner Wange bemerkte, gab mir das genug Ablenkung um schließlich auch die letzten Gedanken an meinen Traum zu vertreiben. Hastig und energisch wischte ich mit dem Handrücken über meine Wange, um die Tränenspuren zu verwischen. Ich konnte mich nicht jede Nacht von meinen Träumen terrorisieren lassen. Das musste ein Ende haben! Ich musste es schaffen. Ich musste vergessen...

Sobald mir diese Gedanken kamen, schoss ein neues Bild durch meinen Kopf. Hellbraune Haare, gebräunte Haut, schokoladenbraune Augen. Ein aufmunterndes, unbeschwertes Lächeln.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, ich umschloss mit einer Hand mein Medaillon. Neue Tränen bildeten sich, und diesmal hielt ich sie nicht auf. Ich würde es nicht schaffen. Ich konnte nicht vergessen. Ich wollte nicht vergessen. Auch wenn es noch so weh tat.

Ein Rascheln schreckte mich aus meinen Gedanken. Als ich mich umsah, entdeckte ich eine Gestalt, die an der Schlossmauer hochkletterte. Ich hätte mich erschreckt, wenn ich diese Situation nicht schon einmal erlebt hätte. Bei näherem Hinsehen bestätigte sich meine Vermutung. Kilian kletterte geschickt und elegant auf ein Fenster zu, das einen Spalt breit geöffnet war. Er trug wieder einmal Bauernkleidung.

Um auf mich aufmerksam zu machen, hob ich einen kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn in seine Richtung. Der Stein traf direkt neben Kilians Kopf auf die Schlossmauer. Erschrocken zuckte der Prinz zusammen und riss den Kopf herum. Als er mich erkannte, setzte er eine irritierte Miene auf. Ich winkte ihm unbeholfen. Ohne Zeit zu verlieren sprang Kilian in einem Satz von der Wand ab und landete direkt vor meinen Füßen.

Ich war beeindruckt. Das waren geschätzte zehn Meter Höhe! „Tia? Wow. Ich hatte nicht erwartet dich hier zu sehen...Vor allem nicht um diese Uhrzeit!" Meine Antwort bestand aus einem Schulterzucken. Kilian sah ein wenig verlegen aus, als wäre ihm etwas peinlich. Dann sah er mein Gesicht genauer an, und plötzlich bildeten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn. „Hast du geweint?" Reflexartig tastete ich mit einer Hand meine Wange ab. Sie war noch nicht ganz getrocknet und meine Haut spannte sich, von den salzigen Tränen gereizt.

Nun war ich diejenige, die verlegen war. Schnell sah ich zu Boden. Plötzlich kam ich mir total dumm vor, wie ich so leicht bekleidet mitten in der Nacht in einem Garten vor einem Prinzen stand. Ihm schien mein Aufzug wohl auch aufgefallen zu sein. „Was ist los?" Ich hatte meinen Notizblock nicht mit, also neigte ich den Kopf, schloss die Augen und zog eine gequälte Grimasse. Ich habe schlecht geträumt. Er verstand.

„Und da bist du hier raus gegangen? Warum?! Hier, alleine und ohne Wachen, könnte dir alles mögliche passieren!" Ich zeigte ihm, dass ich frische Luft brauchte, indem ich ein paarmal hörbar ein und ausatmete. Mir war klar, dass er mich verstand. Kilian schien mich ohne Worte besser zu verstehen als sonst irgendjemand. Ich hatte das Gefühl, nicht einmal etwas schreiben zu müssen, um mit ihm kommunizieren zu können. Das war ein Grund, warum ich seine Anwesenheit so sehr genoss.

Da fiel mir etwas an seinen Worten auf. Mit empörter Miene verschränkte ich die Arme und sah den Prinzen herausfordernd an. Er sah verwirrt aus. „Was?" Ein paar mal fuchtelte ich wild in der Gegend herum und gestikulierte so, dass es heißen sollte: Traust du mir nicht zu, dass ich auf mich selbst aufpassen kann?!
Er lachte als er begriff worauf ich hinauswollte. „Du verstehst das falsch. Natürlich kannst du auf dich selbst aufpassen! Es ist nur so, dass ich... Ach ich weiß nicht. Bei dir habe ich immer das Gefühl, dass ich dich vor allem beschützen muss."

Meine Wangen wurden heiß und ich verspürte eine seltsame Aufregung. Ich fühlte eine unsagbare Freude über Kilians Worte. Was war denn plötzlich los mit mir?!
Kilian hatte mich unterdessen mit kritischem Blick beäugt. „Du siehst etwas blass aus. Wirst du vielleicht krank?" Wie kam er denn jetzt darauf? Beruhigend hob ich die Hände. Dabei deutete ich auf den Mond. Vermutlich nur das Mondlicht.

Er war nicht überzeugt. „Na schön, aber geh morgen sicherheitshalber zu einem Sanitätsbereich, ja? Ich will nicht, dass du krank wirst." Nach kurzem Zögern fügte er grinsend hinzu: „Dann könnte ich dich nicht mehr so oft sehen." Auch, wenn es vermutlich als Scherz gemeint war, stieg die Aufregung in mir bei seinen Worten und ich lächelte als Antwort.

„Komm" sagte er dann, sich abwendend. „Lass uns reingehen. Es ist spät." Zusammen liefen wir zurück ins Schloss. Der Prinz benutzte diesmal netterweise den Dienstboteneingang statt eines Fensters. Apropos... Während wir nebeneinander her gingen, tippte ich Kilian auf die Schulter. „Was ist?" flüsterte er, da wir niemanden wecken wollten. Fragend deutete ich auf ihn, dan nach draußen und zuckte anschließend mit den Schultern. Sollte heißen: Was hattest du eigentlich da draußen zu suchen?

Er winkte ab. „Nicht so wichtig!" Es kam so abrupt, dass ich mir sicher war, dass er etwas verbarg. Allerdings wollte ich ihn nicht drängen, also liefen wir stumm weiter. In Gedanken begann ich jedoch zu grübeln. Was hatte der Prinz nachts außerhalb des Schlosses zu suchen? Und warum entkam er so oft aus dem Schloss?

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt