Kapitel 34

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Ich rannte. Weiter, immer weiter. Wollte einfach nur weg. Doch die Schwärze holte mich ein. Plötzlich war ich von ihr umgeben. Umzingelt. Es gab keinen Ausweg. Und dann ein Gesicht. Traurige Augen, in denen sich Enttäuschung und Entsetzen wiederspiegeln. „Du bist Schuld." sagte eine, seine, Stimme. Ich spürte heiße Tränen auf meiner Wange. „Nein!" schrie ich. „Du hast mich verraten. Mich alleine gelassen." sprach er weiter. „Nein! Nein, das stimmt nicht!" Seine Stimme vervielfachte sich, sie sprachen durcheinander und von allen Seiten. „Wieso hast du das getan? Wieso hast du das zugelassen? Warum hast du mir nicht geholfen?" Ich schrie nur noch. Wollte alles verneinen, doch meine Stimme versagte. Die Stimmen wurden immer lauter, sie fraßen mich auf. Das Gesicht eines Mannes tauchte auf. Ein Schlangentatoo auf dem Hals. Das Gesicht zu einer hässlichen, schadenfrohen Fratze verzogen. Ein Knall. Ich hielt mir die Ohren zu, schrie weiter, wollte, dass es aufhört, spürte die Schmerzen, das Brennen auf dere Haut. Noch ein Knall - Stille. Keine Stimmen mehr. Nur noch Schwärze zu sehen. Dann wieder sein Gesicht, der enttäuschte Blick in den Augen, der mir fast das Herz zerriss. „Du hast mich getötet."

Voller Entsetzen riss ich die Augen auf. Zuerst wusste ich nicht, wo ich mich befand. Ich keuchte und konnte mich nicht auf meine Umgebung konzentrieren. Die Bilder waren noch zu real. Erst nach einigen Sekunden nahm ich wahr, dass ich auf meinem Bett saß und es mitten in der Nacht war. Umrisse ließen erkennen, dass Sofie noch schlief. Das hieß, ich hatte nicht wirklich geschrien. Alles war nur ein Traum. Nur. Mein Atem ging unregelmäßig, ich zitterte am ganzen Körper und war nassgeschwitzt. Zusätzlich kam ich mir hier drin eingesperrt vor. Hastig schob ich die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Wie in Trance zog ich mir Schuhe und eine Strickjacke über mein leichtes Nachthemd, bevor ich hinauseilte. Nach ein paar Minuten gelangte ich endlich ins Freie. Warmer Sommerregen kam mir entgegen, doch das störte mich nicht. Im Gegenteil: Er bewirkte, dass ich langsam zur Ruhe kam. Das prasselnde Geräusch und die Tropfen auf meiner Haut spülten meine Gedanken langsam und sachte fort. Ich blieb stehen wo ich war - vor der Tür im Schlosshof - und schloss die Augen. So lange, bis mein Körper schließlich aufgehört hatte zu zittern. Ich fühlte mich nun nicht mehr so aufgewühlt vom Traum, nicht mehr überfordert oder mit zu vielen Gedanken im Kopf. Nein, mein Kopf war klar und hielt sich an einem Gedanken fest, der sich einfafch nicht vom Regen fortspülen ließ.

Dieser Gedanke trieb mir Tränen in die Augen. Nun weinte ich. Ich konnte es nicht verhindern. Mein Gesicht war so nass, dass ich nicht unterscheiden konnte was vom Regen und was von den Tränen kam. Leise schluchzend, um keine Wachen auf mich aufmerksam zu machen, presste ich meinen Rücken an die kühle Schlossmauer und griff nach der Kette um meinen Hals. Ich wagte es nicht, das Medaillon zu öffnen, zum einen um das Bild darin nicht durch den Regen zu ruinieren, zum anderen war ich nicht stark genug. Ich hatte mir dieses Bild schon so oft angesehen, ich kannte es in - und auswendig. Meine Eltern, strahlend, schön und stolz. Doch ich hatte es stets vermieden auf die beiden Kinder darunter zu sehen. Das kleine Mädchen mit einem naiven Lächeln... und der etwas ältere Junge daneben. Mein Griff um das Medaillon verkrampfte sich. Nun trat dieses eine Gefühl hervor, das ich seit 8 Monaten versucht hatte zu unterdrücken: Einsamkeit. Ich war alleine. Ich hatte niemanden mehr. Diese Erkenntnis schnürte sich um meine Brust wie eine Eisenschlinge. Kalt und unbarmherzig.

Ich hatte keine Familie mehr. Und würde sie wohl auch nie wieder bekommen. Diesen winzigen Hoffnungsschimmer, den ich bis jetzt in mir getragen hatte, gab es nicht mehr. Nicht in diesem Moment der Verzweiflung. Nicht einmal ihn würde ich wiedersehen, auch, wenn Margot mir das einst versprochen hatte. Aber kein Mensch konnte Wunder vollbringen, auch sie nicht. Margot...Selbst sie war nicht mehr bei mir. Sie war in einem anderen Land und konnte nicht für mich da sein. Wie sehr ich jetzt eine ihrer Umarmungen brauchte! Sie waren in den letzten Monaten das Einzige, das mich von meiner Trauer abhalten konnte. Und nun? Ich stellte mir vor, wie sie nun vorbeilaufen würde. Wenn sie mich sehen würde. Sie würde entsetzt die Hände über den Kopf schlagen und mich sofort in ihre starken Arme nehmen. Wenn ich mich ausgeweint hätte, hätte sie mir über den Kopf gestrichen und gemeint: „Und jetzt reiß dich zusammen, mein Kind! Du kannst nicht die ganze Zeit herumsitzen und heulen, das bringt nichts. Und aufgeben nützt erst recht nichts! Also steh auf, Liebes! Gib nicht auf! Erinnere dich daran, wer du bist!"

Augenblicklich fielen mir ihre Worte bei unserem Abschied wieder ein: Du wirst klarkommen alleine. Du bist stark! Vergiss niemals wer du bist und was du alles schaffen kannst! Ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht, und der Kloß in meinem Hals schrumpfte, bis er schließlich ganz verschwand. Entschlossen stieß ich mich von der Wand ab und wischte mir übers Gesicht. Margot hatte Recht. Wie immer. Ich durfte hier nicht einfach rumsitzen und in Trauer versinken, ich musste einfach weiterhoffen. Dass irgendwann alles gut wird. Und das der Schmerz vergeht. Bis dahin wusste ich, dass ich nicht alleine war: Ich hatte Margot, auch wenn sie weit weg war. Und ich hatte Sofie. Wie hatte ich sie vergessen können?! Mit neuem Mut im Herzen ließ ich auch den letzten schweren Gedanken los, drehte mich um und lief zurück ins Schloss. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, doch ich war schon längst komplett durchnässt durch den Angstschweiß, Tränen und Regenwasser. Eilig und darauf bedacht so wenig Wasserspuren wie möglich im Palast zu verteilen ging ich zurück zu unserem Zimmer. Ich musste eine Weile weggewesen sein, denn draußen begann es bereits heller zu werden. Also schob ich leise einen Waschtrog ins Zimmer und füllte ihn mit heißem Wasser. Anschließend hängte ich meine nasse Kleidung aus dem Fenster und stieg in die Wanne um mich zu waschen. Das heiße Wasser und Sofies ruhiges Atmen entspannten auch meine letzten Muskeln, sodass ich nach einem gründlichen Waschgang schon fast wieder unbeschwerte Laune hatte.

Besonders weil ich mich ablenken konnte, denn heute war der große Tag: Heute kamen Sofies Geschwister zu Besuch. Darauf freute ich mich schon sehr, denn ich wusste, es würde Sofie sehr glücklich machen. Um diesem Tag ein wenig mehr Bedeutung zu verleihen, zog ich das rote Kleid an. Es war nicht wirklich besonders, doch meiner Meinung nach war es das Schönste, was ich an Kleidung besaß: es war ein blutrotes Leinenkleid und die Ärmel gingen bis knapp über den Ellbogen. Sogar auf meine geliebte Mütze verzichtete ich. Stattdessen flocht ich mir lediglich ein paar vordere Haarsträhnen zurück, ehe ich mich in dem kleinen Handspiegel betrachtete, den ich mitgebracht hatte. Meine Augen waren noch etwas geschwollen, aber das würde im Laufe des Tages abklingen. Sonst sah ich aus, wie man nach einem Bad eben aussah: Sauber und frisch. Und so fühlte ich mich auch zum Glück.

Zufrieden mit mir ging ich zu Sofie rüber und schüttelte leicht an ihrer Schulter. Ein Grummeln kam zurück. Ich rüttelte fester. Ein lauteres Grummeln. Schließlich griff ich doch zur altbewährten Methode: Dem Kissen. Als es in ihrem Gesicht landete, schrak sie hoch. „Was?! Was ist - Tia! Was ist denn?!" Sie verstummte, als sie meinen Aufzug und mein Grinsen sah. Zusätzlich hielt ich ihr mein Notizbuch unter die Nase:

Heute ist der große Tag!

Sofort sprang sie auf. „AAAAhhh! Warum hast du mich nicht geweckt?! Ich muss mich beeilen!" Grinsend machte ich mich daran, ihr beim Anziehen zu helfen. Wie hatte ich nur glauben können, ich sei völlig alleine?

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt