Ein Junge und ein Mädchen sitzen auf einer Wiese. Das Mädchen ist etwa 7 Jahre alt und ein paar Jahre jünger als der Junge. Sie flechtet eine Kette aus Blumen, die sie von der Wiese pflückt. Der Junge sieht ihr dabei zu und lächelt. Schließlich hat sie die Kette beendet und hält sie stolz dem Jungen hin. „Schau mal!" Er nickt beeindruckt. „Woow, die ist ja toll! Hast du die selbst gemacht?" Das Mädchen nickt und hängt ihm die Kette um den Hals. „Für dich!" Der Junge sieht die Kette an, als wäre sie aus Gold und Diamanten. „Vielen Dank! Die ist wunderschön! Und sie passt zu meinem Outfit!" Das Mädchen hält den Kopf schief und grinst. „Eigentlich nicht." Mit gespielt empörter Miene greift der Junge nach dem Mädchen und kitzelt sie. Beide fallen nach ein paar Sekunden lachend ins Gras. „Ich will Verstecken spielen!" sagt das Mädchen plötzlich. Der Junge stimmt zu und versteckt sich. Das kleine Mädchen zählt bis zehn, bevor sie sich umsieht und nach dem Jungen sucht. Doch sie kann ihn nicht finden. Egal wo sie sucht. Sie bekommt Panik. „Wo bist du?!" Da ertönt eine Stimme. Sie ist dunkel und kratzig. „Er ist fort! Und er wird nie wiederkehren!" Die Wiese verschwindet, alles wird schwarz um das Mädchen herum. Sie fängt an zu schreien vor Angst, doch niemand hört sie. Stattdessen hört sie nur die Stimme aus der Ferne, bis schließlich auch das Mädchen von der Dunkelheit verschluckt wird.
Schweißgebadet öffnete ich die Augen und schnappe nach Luft. Wo war ich? Was war passiert? Als ich neben mir das ruhige Atmen von Sofie hörte, beruhigte ich mich langsam. Ein Traum, es war nur ein Traum. Noch etwas benommen setzte ich mich auf. Durch das kleine Fenster schien noch kein Licht, doch der Himmel war nicht so dunkel wie in der Nacht. Es musste also früher Morgen sein. Gut so, dachte ich. Ich hätte sowieso nicht wieder einschlafen können. Um Sofie noch nicht zu wecken, stand ich so leise wie möglich auf und suchte in meiner Tasche nach dem kleinen Kamm, den ich mitgenommen hatte. Als ich ihn fand löste ich meine Haare aus dem Zopf, den ich gestern Abend noch schnell geflochten hatte, und kämmte sie durch.
Die dunkelblonden Wellen entknoteten sich Stück für Stück, sodass ich nach ein paar Minuten wieder akzeptabel aussah und meine Haare zu einem neuen Zopf flocht. Heute wollte ich keine Mütze anziehen. Stattdessen sah ich mich unschlüssig nach einer Waschmöglichkeit um. Schnell entschied ich mich jedoch um und ging zur Kleiderwahl über. Wenn ich mich jetzt wusch konnte ich meine Mitbewohnerin wecken. Außerdem war es sinnvoller, sich abends den über den Tag entstandenen Dreck abzuwaschen. Prüfend warf ich einen Blick auf die wenigen Kleider, die ich besaß. Sie waren allesamt nicht sehr besonders, und trotzdem fand ich es schade, sie während der Arbeit verschmutzen zu müssen.
Dann fiel mir eine andere Lösung ein. Eine, die mir sowieso fiel besser gefiel. Hastig suchte ich nach einer Hose und fand schließlich eine braune Leinenhose und ein beiges, lockeres Hemd. Zufrieden zog ich alles an. Es war relativ selten, dass eine Frau Hosen trug, und wenn, dann meistens nur eine in der Arbeiterklasse aus praktischen Gründen. Mein Vater hatte mir früher als Kind erlaubt in Hosen rumzurennen. Das war schon Jahre her, und umso mehr genoss ich es jetzt. Gerade band ich mir die Schürze um, als hinter mir ein Grummeln erklang. Ein roter Lockenkopf drehte sich hin und her, bis mich schließlich ein verschlafenes Augenpaar ansah. „Wiescho bischuschon angezogen?" murmelte sie unverständlich und schien dabei fast wieder einzuschlafen.
Es sah irgendwie süß aus. Um sie vom Weiterschlafen abzuhalten, legte ich sanft eine Hand auf ihre Schulter und rüttelte ein wenig daran. „Hmmm, fumf Minutn..." kam als Antwort. Ich rüttelte etwas fester. Keine Reaktion. Schließlich tauchte ich meine Finger kurz in den Wasserkrug, der neben ihrem Bett stand, und spritzte ihr damit ins Gesicht. Erschrocken riss sie die Augen auf und setzte sich auf. „Baaaaah! Was hast du gemacht!" Ich antwortete mit einem Schulterzucken, konnte ein Grinsen dabei jedoch nicht verbergen. Dann schrieb ich.
Entweder das oder die Miesmuschel hätte dich wecken müssen.
Als sie meine Worte las, musste sie lachen. „Ok, das war das kleinere Übel! Aber wenn ich das nächste Mal nicht aufwache, schubs mich einfach aus dem Bett. Der Schreck ist viel angenehmer als plötzlich Wasser im Gesicht zu haben!" Nachdem ich es versprochen hatte, half ich ihr sich anzuziehen. Dann gingen wir gemeinsam in die Hauptküche. Heute war Küchendienst angesagt. In der Küche angekommen, kam der Junge von gestern auf uns zu. Tim, wenn ich mich recht erinnerte. „Die Miesmuschel sagt ihr sollt Kartoffeln schälen. Zwei Kisten, und danach das Gemüse schneiden.!" Wissend nickte meine Mitbewohnerin. „Alles klar." Wieder musterte der Junge mich. Sofie bemerkte es.
„Tim, das ist Tia. Meine neue Mitbewohnerin. Sei nett zu ihr, ja?" Der letzte Satz klang wie eine unterschwellige Drohung. Unsicher lächelte ich den Jungen an. Er hatte kurze, rotbraune Haare und einige Sommersprossen im Gesicht. Die Augen leuchteten in einem olivgrün. Prüfend musterte er mich noch einen Augenblick, dann nickte er und ging wieder an seine Arbeit. Entschuldigend sah mich meine Mitbewohnerin an. „Tim ist manchmal etwas...skeptisch Fremden gegenüber. Mach dir nichts daraus! Ich bin sicher, bald wird er dich genauso sehr mögen wie ich dich mag!" Bei Sofies Worten wurde mir warm ums Herz. Dankbar lächelte ich sie an und sie erwiderte es. Danach gingen wir in eine Ecke der Küche, in der bereits einige Frauen saßen und Kartoffeln schälten. Sie waren allesamt mindestens zehn Jahre älter als wir. Als sie uns sahen, rief eine Frau rau: „Ach, Sofie! Bequemt sich die feine Dame auch mal zu uns?!"
Entschuldigend sah sie in die Runde und nahm am Rand Platz. „Tut mir Leid. Hab verschlafen. Glücklicherweise hat Tia auf mich aufgepasst!" Sie winkte mich zu sich, also setzte ich mich neben sie. Dabei sah ich auf den Boden. Die vielen Blicke, die nun auf mir lagen, waren mir unangenehm. „Du bist also das stumme Mädchen, wie? Na dann willkommen!" Die Frau, die bereits vorhin das Wort ergriffen hatte, sah mich an, als wüsste sie nicht ganz, was sie von mir halten sollte. Als wäre ich geistig nicht klar im Kopf. Meine Güte, ich war doch nicht blöd! Ich sprach vielleicht nicht, aber das hieß doch noch lange nicht, dass es mir an Intelligenz fehlte! Leider schienen viele genau das anzunehmen.
Also nickte ich kurz als Antwort und griff anschließend zu einer Kartoffel und einem Schäler, um mich zu beschäftigen. Doch lange wurde ich nicht in Ruhe gelassen. Bald kam die erste Frage. „Also, Sofie, Wie alt ist sie?" Ich biss mir auf die Lippe, um bloß keinen Fluch auszustoßen. Oder zu denken. Sofie sah nicht einmal von ihrer Arbeit auf. „Frag sie doch. Sie ist nicht taub!" Die Frau sah zu mir, und ich lächelte. Zwar war sie mir nicht sehr sympatisch, doch ich würde nun auf keinen Fall meine Manieren vergessen! Darum holte ich meinen Block hervor und schrieb:
Ich bin 17 Jahre alt.
„Und wo kommst du her?" wollte eine Andere wissen.
Aus dem Nachbarkönigreich Lavinia.
Erstaunt sah mich die Runde an. Damit hatte wohl niemand gerechnet. Auch Sofie war überrascht. „Wie jetzt? Du bist nicht von hier? Warum...naja...bist du dann hier?"
Weil ich Arbeit brauchte.
Die Frauen sahen noch nicht überzeugt aus. „Sind denn in Lavinia schon alle Stellen besetzt?" Ich schüttelte den Kopf.
Nein. Aber eine liebe Freundin hat Kontakt zu Anne und konnte mir so diese Stelle hier vermitteln. Sie ist weit besser als andere Stellen.
Eine Frau nickte zustimmend. „Das ist wohl wahr. Der König lässt uns zu ziemlich guten Arbeitsbedingungen arbeiten!" Die anderen Frauen schienen mir nun weniger voreingenommen. Eine fragte interessiert: „Vermisst du denn deine Familie nicht?"
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Schnell sah ich zu Boden, damit niemand die aufsteigenden Tränen sah.
Ich habe keine Familie mehr.
DU LIEST GERADE
Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...