Kilians Sicht:
Zwei Tage waren vergangen, seitdem ich nachts auf Tia gestoßen war und sie gleichzeitig das letzte Mal gesehen hatte. Allmählich begann ich mir Sorgen zu machen. Wenn ihr nun etwas zugestoßen war? Ich hatte, soweit es meine Pflichten zuließen, sowohl gestern als auch heute jeden Zentimeter des Schlosses durchsucht, doch sie war nirgends zu finden.
Es war späte Nacht, als ich endlich aus meinem Arbeitszimmer gehen konnte und mich auf mein Zimmer begeben durfte. Allerdings ging ich nicht nach oben in den Schlafbereich, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Auch wenn ein Teil in mir flüsterte, dass es hoffnungslos war nach Tia zu suchen, lief ich weiterhin durch die Flure des Palastes. Ich wollte nur sichergehen. Und wenn ich sie heute nicht fand, würde ich ihre Freundin finden und sie befragen.Oft schon hatte ich Tia mit diesem rothaarigen Mädchen zusammen gesehen. Wenn also jemand wissen konnte, was los war, dann sie. Auf den Gängen kam mir niemand entgegen. Das ganze Schloss schien bereits zu schlafen. Gerade lief ich gedankenverloren an zwei Türen vorbei, als mich etwas plötzlich zurückhielt. Irritiert sah ich zurück. Eine der Türen war einen Spalt breit offen, durch die ein Strahl hellen Mondlichts fiel und die Dunkelheit vertrieb. Es war die Tür zum Ballsaal. Neugierig ging ich näher an den Türspalt heran und warf einen Blick hinein. Dort traute ich kurz meinen Augen nicht. Die riesigen Fenster tauchten die leere Halle in helles Mondlicht und erzeugten so eine angenehme, fast magische Atmosphäre. Doch das war es nicht, was meinen Blick einnahm: Es war das Mädchen, das mitten im Saal auf dem Boden lag und schlief. Der Saal war hell genug, sodass ich sofort wusste um welches Mädchen es sich hierbei handelte. Schmunzelnd ging ich ein paar Schritte näher an sie heran. Dabei fiel mir ein Stein vom Herzen. Zu wissen dass es ihr gut ging beruhigte mich ungemein. Als ich direkt vor der Schlafenden stand kniete ich mich zu ihr.
Sie lag auf der Seite, die Beine waren angewinkelt und in einer Hand hielt sie noch einen Schrubber. Unter ihrer Mütze hatte sich längst die Hälfte ihrer Haare herausgeschält, sodass einzelne dunkelblonde Wellen vom Mondlicht angestrahlt wurden. Auch ihr Gesicht wurde erhellt. Das Mondlicht ließ ihre blasse Haut fast weiß erstrahlen, sodass sie mit ihren markanten Gesichtszügen und den umrahmenden Haarsträhnen einer Elfe glich. In diesem Moment wirkte sie auch genauso zerbrechlich wie eine. Sofort stieg in mir ein unbändiger Beschützerinstinkt auf. Vorsichtig beugte ich mich vor und strich ihr mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dieses Mädchen war ein einziges geheimnisvolles Rätsel. Diesen Gedanken hegte ich bereits seit unserer ersten Begegnung. Schon allein der Fakt, dass sie nicht sprechen konnte, machte sie geheimnisvoll. Ganz zu schweigen von ihrer Art selbst. Oft schon hatte ich sie als eine starke und mutige junge Frau erlebt, die kein Blatt vor den Mund nahm wenn es ihr als wichtig erschien. Aber da waren auch die einzelnen Male, in denen sie mehr wie ein junges, verschüchtertes Mädchen wirkte, das vor etwas davonlief. Nur: Vor was? Vor ihrer Vergangenheit? Noch ein Punkt, der sie mysteriös wirken ließ.
Sie hatte zwar nie direkt etwas erzählt, doch es war klar, dass in ihrem Leben etwas schreckliches passiert sein musste. Das zeigte schon allein die Narbe an ihrem Unterarm. Augenblicklich musste ich daran denken, wie sie meinte, sie wurde von einer Peitsche verursacht. Ich dachte an ihren gequälten Ausdruck, während sie es mir gestanden hatte... Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Wie konnte es jemand wagen, Tia etwas anzutun! Wenn ich dabei gewesen wäre... Dieser Mensch wäre nicht mehr am Leben! Tia hatte solch eine Grausamkeit nicht verdient! Sie war gutherzig, intelligent und immer bereit, das Wohl anderer über ihr eigenes zu stellen. Die Gedanken an ihre Persönlichkeit lösten die zuvor geballten Fäuste und besänftigten meine Wut. Stattdessen schlich sich nun wieder dieses seltsame Gefühl ein, dass mich bereits seit einer Weile verfolgte. Ein lauter Atmer von Tia unterbrach meine Gedanken.
Was sollte ich nun mit ihr machen? So liegen lassen konnte ich sie nicht, am Ende wurde sie noch krank. Aufwecken wollte ich sie jedoch auch nicht. Also griff ich kurzerhand unter ihren Beinen und ihrem Rücken durch und hob sie vorsichtig hoch. Sie war erstaunlich leicht. Da sie weiterschlief, lief ich mit ihr in den Armen vorsichtig aus dem Saal. Ich wusste, dass sich die Zimmer für Angestellte im Westflügel befanden. Im Erdgeschoss und in den ersten drei Etagen, wenn ich mich recht erinnerte. Nur wie ich das Zimmer herausbekommen sollte, wusste ich nicht ganz. Zwar konnte ich an jede Tür einzeln klopfen, doch ich wollte erstens nicht alle wecken und zweitens keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns lenken. Das würde nur zu weiteren Gerüchten führen, auf die ich wirklich keine Lust hatte. Glücklicherweise meinte es das Schicksal gut mit mir. Als ich in der dritten Etage ankam und durch den Flur lief ging zufälligerweise eine Tür auf und ein Mädchen kam heraus. Sie trug ein paar einzelne Wäschestücke und schien uns nicht zu bemerken. Da es sehr dunkel war, erkannte ich erst auf den zweiten Blick ein paar zusammengebundener roter Locken, die bereits wieder in einer Tür verschwanden. Eilig lief ich ihr hinterher und auf die Holztür zu. Bevor ich klopfen konnte, hörte ich ein leises Murmeln, das von Tia kam. Als ich meinen Kopf senkte, lehnte sie ihren Kopf näher an meine Brust und lächelte. Ihr Lächeln war so schön. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Dann schüttelte ich kurz den Kopf und konzentrierte mich wieder auf meine Umgebung. Vorsichtig drehte ich mich ein bisschen, sodass ich mit dem Ellenbogen anklopfen konnte. Ein paar Momente vergingen, ehe sich die Tür knarzend öffnete und mich ein paar strahlende blaue Augen ansahen. Nun ja, eigentlich waren sie voll und ganz auf das Mädchen in meinen Armen fixiert. „Tia! Was -" Dann schien sie zu registrieren wen sie vor sich hatte. „E-eure Hoheit" stammelte sie verwirrt und machte einen Knicks. „Was ist passiert? Was macht Ihr hier? Geht es Tia gut?" Ich lächelte sie beruhigend an. „Alles in Ordnung. Sie schläft nur. Ich habe sie vorhin so im Ballsaal aufgefunden und wollte sie nicht einfach so liegen lassen. Sie muss wohl während ihrer Arbeit eingeschlafen sein." „Verstehe." Erleichtert sah sie auf ihre Freundin in meinen Armen. Dann schien ihr einzufallen, dass ich immernoch vor der Tür stand. „Bitte" sagte sie dann hastig und trat zur Seite, damit ich eintreten konnte. „Wärt Ihr so freundlich sie in ihr Bett zu legen? Ich glaube sie ist etwas zu schwer für mich." Nickend trat ich ein und ging auf das Bett zu, auf das das Mädchen zeigte. Dabei sah ich mich unauffällig um und war schockiert.
Das Zimmer war vielleicht ein Viertel von meinem Schlafgemach, und darin mussten auch noch zwei Menschen Platz finden! Wenn jeder Bedienstete so lebte, musste ich wohl mal mit meinem Bruder sprechen. Sicher war Elias dieser Umstand nicht bewusst und würde daran ebenso etwas ändern wollen wie ich. Mit diesem Gedanken konzentrierte ich mich wieder auf das Hier und Jetzt, denn ich musste Tia nun so vorsichtig hinlegen, dass sie nicht aufwachte. Nach ein paar Sekunden gelang es mir auch. Kurz strich ich der Schlafenden noch eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Erleichtert, dass ich es geschafft hatte, aber auch irgendwie traurig darüber, dass ich sie nicht noch länger in den Armen halten durfte, erhob ich mich wieder und wandte mich zum Gehen. Vor der Tür sah mich das Mädchen nochmal dankbar an. „Vielen Dank, dass Ihr sie hergebracht habt, Majestät!" Ich winkte ab. „Das. War doch selbstverständlich. Übrigens: Wie lautet dein Name?" Überrascht über meine Worte erwiderte sie: „Sofie, Majestät." Ich nickte. „Ein schöner Name. Na dann noch eine gute Nacht, Sofie!" Sie verbeugte sich. „Gute Nacht, Hoheit!" Damit wandte ich mich zum Gehen und sie schloss die Tür.
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Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...