Kapitel 52

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Obwohl ich gestern Nacht völlig erschöpft ins Bett gefallen war, erwachte ich an diesem Morgen noch vor Sonnenaufgang. Um Sofie noch nicht zu wecken, stand ich besonders vorsichtig auf und machte mich fertig. Meine Haare wusch ich in eiskaltem Wasser, doch das machte mir nichts aus. Nicht heute. Prüfend sah ich auf mein Spiegelbild im Waschwasser. Meine Augen waren noch leicht gerötet von dem vielen Weinen gestern, und meine Haut war wie immer ziemlich blass. Und trotzdem sah ich anders aus. Irgendwie...besser. Entspannter. Als wäre mir eine große Last genommen worden. Und genauso fühlte es sich auch an. Lächelnd dachte ich an gestern, als ich in Kilians Armen lag. Warum fühlte ich mich in seiner Nähe nur immer so warm und geborgen? Ach, ich kannte die Antwort doch längst. Wieso wunderte es mich immernoch? Vielleicht, weil das Ganze so neu für mich war. Unschlüssig sah ich zu der schlafenden Sofie hinüber. Früher hätte ich nur mit Erik über meine Gefühle gesprochen...

Mit geschlossenen Augen umfasste ich mein Medaillon. Zum ersten Mal seit Monaten erlaubte ich mir, bewusst an meinen Bruder zu denken. Ich sah wieder die Ereignisse der verhängnisvollen Nacht vor meinem Auge, doch diesmal kamen zu den Bildern auch andere hinzu. Schöne Erinnerungen, an Familienausflüge, Streiche die wir uns gegenseitig gespielt hatten, die Momente mit Erik alleine, wenn ich mich verkrochen hatte weil ich traurig war und er für mich da war. Ach Erik... Was hättest du wohl zu Kilian gesagt? Ob du dich wohl mit ihm verstanden hättest? Bestimmt, ihr seid schließlich beide furchtbar eingebildet! Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, doch das war okay. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Es tat weh, immernoch, aber ich wusste nun, dass es irgendwann wieder besser werden würde. Ich war nicht allein. Es gab Menschen, die mich liebten und denen ich wichtig war. Vater, Margot, James, Sofie, Kilian... Ein Gähnen riss mich aus meinen Gedanken. Als ich den Kopf drehte, sah ich gerade noch wie Sofie die Augen öffnete und sich streckte. „Bin ich zu spät?" fragte sie schläfrig und mit rauer Stimme. Eine wohlige Wärme durchfuhr mich. Grinsend schüttelte ich den Kopf, lief zu ihr ans Bett und schlang die Arme um meine beste Freundin. Dabei kitzelten mich ein paar ihrer roten Locken. Überrascht fragte sie: „Wofür ist das denn?" Immernoch grinsend nuschelte ich in ihr Nachthemd hinein: „Einfach so. Weil ich so froh und dankbar bin, dass ich eine Freundin wie dich habe!"

Als ich mich von ihr löste, lächelte sie gerührt, doch es erreichte ihre Augen nicht. Irgendetwas schien sie zu bedrücken. „Was ist los?" wollte ich besorgt wissen. Sie sah auf den Boden. „Tia, da gibt es etwas, dass ich dir-" Ein Klopfen - nein, Hämmern, - unterbrach sie. Im selben Moment drang Annes Stimme durch die Tür. „Mädchen! Kommt ihr heute noch oder wollt ihr eure Arbeit verlieren?!" Sofort sprang Sofie auf und rief: „Wir sind sofort da!" Dann sah sie mich panisch an. „Schnell, du musst mir helfen mich fertigzumachen!" Sie wollte bereits davoneilen, doch ich hielt sie am Arm zurück. „Warte, was wolltest du gerade sagen?" Eine Sekunde lang hatte sie einen Ausdruck auf dem Gesicht, den ich nicht deuten konnte. War es Unsicherheit, Traurigkeit, Angst? Ich wusste es nicht, und ehe ich mich versah war der Ausdruck verschwunden. Stattdessen grinste Sofie mich schief an und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach nicht so wichtig. Los jetzt, sonst sind wir unsere Arbeit los!" Sie hatte Recht, also beeilten wir uns, machten meine beste Freundin fertig und verließen in Rekordzeit das Zimmer.

Ein paar Tage vergingen. Fast hatte ich das Gefühl, alles wäre wieder zur Normalität zurückgekehrt. Bis auf die Tatsache, dass sich die Königsfamilie mir gegenüber anders verhielt. Einmal hatte ich die Königinmutter im Gang getroffen, und sie hatte mir freundlich zugenickt. So wie ich den Rest der Familie kannte hätte sie so vermutlich auch einen Angestellten begrüßt, doch es war das erste Mal, dass ich die Mutter außerhalb eines öffentlichen Anlasses traf. Auch Elias verhielt sich etwas anders. Er behandelte mich und alle anderen immernoch mit Respekt und purer Freundlichkeit, wenn er auf mich traf, doch nun nannte ich ihn „Elias" und er deutete immer, wenn wir uns verabschiedeten, eine Verbeugung an. Deutlich genug, um mir auf seine Art auf Augenhöhe zu begegnen, aber dezent genug, damit es sonst niemandem auffiel. Er versorgte mich außerdem regelmäßig mit Neuigkeiten in Bezug auf die Rebellen. Seine Männer hatten wohl eine Spur entdeckt, die sie nun verfolgten, und er versicherte mir, dass er dafür gesorgt hatte, dass wir im Schloss absolut sicher waren. Aber nicht nur sein, sondern auch Kilians Verhalten mir gegenüber hatte sich verändert. Wenn wir uns im Schloss begegneten, warf er mir lediglich ein knappes Lächeln oder eine kurze Begrüßung zu, bevor er weitereilte. Als ich ihn einmal fragte, ob wir uns nicht wieder treffen könnten, lehnte er entschuldigend ab. „Ich habe im Moment leider alle Hände voll zu tun, es tut mir Leid!" Meine Reaktion war verständnisvoll ausgefallen, doch als sich dieses Schauspiel in den darauffolgenden Tagen fortsetzte, beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass Kilian mir absichtlich aus dem Weg ging. Aber wieso? Hatte ich etwas falsches getan oder gesagt?

Wieder und wieder war ich unsere Unterhaltungen durchgegangen, doch ich kam einfach zu keiner Antwort. Die einzige Lösung, die mir auf dieses Rätsel einfiel, war das Verschweigen meiner Herkunft. Aber Kilian hatte mir doch vergeben, oder etwa nicht? Oder brachte ihn die Tatsache, dass ich eine Prinzessin war, auf Distanz? Wenn ich abends ins Bett fiel, rauchte mir der Kopf von all diesen Überlegungen. Und letzten Endes kam ich doch nicht weiter. Ein Seufzer entfuhr mir, als mich diese Gedanken wieder einmal plagten. Sofie sah mich mit schräggelegtem Kopf an. „Du gibst in letzter Zeit ziemlich oft solche Laute von dir. Ist alles in Ordnung?" Müde lächelte ich sie an und nickte dabei. Zwar konnte ich nun ungezwungen mit meiner besten Freundin sprechen, doch es war noch ungewohnt für mich, auf etwas sofort mit Worten zu reagieren. Zum Teil konnte das auch daran liegen, dass ich noch nie besonders redselig war. Gerade trugen Sofie und ich zwei große Wäschekörbe durch den Palast, als wir plötzlich ein Klirren hörten. Es kam aus dem Hauptflur, den wir gleich kreuzen würden. Irrititert sahen Sofie und ich uns an, bevor ich an ihr vorbei um die Ecke bog um nachzusehen, was los war. Wie erstarrt blieb ich stehen. Sofie prallte gegen meinen Rücken, doch das nahm ich gar nicht wahr. Stattdessen sah ich auf die zerbrochenen Fenster und die Glasscherben, die überall verteilt lagen. Schon kletterten dunkle Gestalten durch die gewaltsam geschaffenen Eingänge. Gestalten, deren Hals freigelegt war und auf dem eine Schlange prangte. „Was-" setzte Sofie hinter mir an, doch ich ließ den Korb in meinen Händen fallen, drehte mich blitzschnell um und zog die Rothaarige in den Gang zurück.

Nachdem sie vor Schreck auch ihren Korb fallen lassen hatte, gab sie einen quietschigen Laut von sich, woraufhin ich sie an mich drückte und ihr den Mund zuhielt. „Sei still und sag kein Wort!" Ihre Augen waren weit aufgerissen, und obwohl sie nichts von den Rebellen wusste, schien sie zu begreifen, was vor sich ging. Einige Momente standen wir ganz still an die Wand gepresst, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Aus dem anderen Gang war Gebrüll zu hören, doch ich konnte nichts verstehen. Das Blut in meinen Ohren rauschte zu laut. Dann - endlich -  kam noch anderes Gebrüll hinzu. Es waren Rufe von Wachen. Dann folgte Lärm, das Klirren von aufeinandertreffendem Metall, und noch mehr Schreie. Panisch versuchte ich, meine Angst unter Kontrolle zu bekommen. Dann beugte ich mich zu Sofie und flüsterte so ruhig es ging: „Wir müssen sofort hier weg!" Zeit um groß zu Diskutieren blieb uns nicht, also schnappte ich mir ihre Hand und rannte den Gang entlang in die Richtung, aus der wir zuvor gekommen waren. Hauptsache weg von den Rebellen. Sie waren hier. Sie wollten schon wieder zerstören. Aber das würde ich nicht zulassen. Nicht dieses Mal. Sofie, Tim, Anne, Elias, Kilian, ... Sollten die Rebellen auch diese Menschen von mir nehmen, würde ich endgültig daran zerbrechen.

Sound of SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt