Eigentlich war der Tag viel zu sonnig, um ihn an einen fensterlosen, dafür aber akustisch perfekt konstruierten Aufnahmeraum zu verschwenden. Ja, er würde ihn verschwenden. Diese Annahme war zwar nicht gewiss, doch sehr wahrscheinlich, dachte Thomas Leibach, als ihn die Rolltreppe der U-Bahn Station in den Münchner Geschäftstrubel ausspuckte. Er hatte natürlich einen Führerschein und hätte sich durchaus ein Auto leisten können, aber seit Jahren war er ständig auf Achse, reiste von Stadt zu Stadt, von Konzert zu Konzert. Er hatte gelernt, die öffentlichen Verkehrsmittel wertzuschätzen und die paar halbwegs ruhigen Stunden in den Öffentlichen Verkehrsmitteln zu genießen.
Hier war es: die Tonstudios Walter & Zimmermann. Mit zielstrebigen Schritten lief Thomas auf den Eingang des von außen unscheinbaren Gebäudes zu und betrat die moderne Eingangshalle. Marmorboden, verglastes Dach, viel Stahl. Im Gegensatz zu ihm würde die Empfangsdame heute nicht an Vitamin D Mangel leiden, dachte er grimmig, als er auf den Schalter zulief.
„Thomas Leibach. Ich bin mit Herrn Christoph Schnell verabredet."
Die ältere Dame warf einen kurzen Blick in ihre Unterlagen und setzte dann ein breites Lächeln auf. „Ah, guten Morgen. Wie gut, dass Sie schon da sind. Herr Schnell wartet im Raum 103. Einfach nur geradeaus und dann auf der linken Seite."
„Vielen Dank", nickte Thomas und marschierte den Gang entlang auf die besagte Tür zu.
Nach einem kurzen Klopfen betrat er den Raum und fand sich in einem Vorzimmer wieder, das durch eine Glasscheibe von dem eigentlichen Aufnahmeraum getrennt war. Wie erwartet gab es keine Fenster. Ein Mann mittleren Alters mit Brille und kariertem Hemd saß über eine Partitur gebeugt am Schreibtisch, stand jedoch sofort auf, um Thomas die Hand zu reichen.
„Es freut mich, dass Sie es schon so schnell geschafft haben, hierher zu kommen, Herr Leibach."
„Das war doch kein Problem. Ich freue mich, dass wir endlich einmal miteinander arbeiten dürfen. Ich bin wirklich gespannt. Schumann kann dann doch eine große Herausforderung sein, wenn man versucht, ihn richtig zu interpretieren."
„Ah, ich sehe schon, wir haben hier einen Perfektionisten", lachte Christoph Schnell. „Im Übrigen, wie wäre es, wenn wir uns einfach duzen würden? Das macht die Arbeit entspannter.", fügte er noch hinzu.
„Ja gerne. Ich bin Thomas."
„Christoph. Wenn du möchtest, kannst du dich schon mal auf dem Flügel einspielen. Der Bechstein macht normalerweise keine Probleme und die Klangqualität auf den Aufnahmen ist meiner Meinung nach unübertroffen."
Thomas nickte dankend.
„Julia müsste jeden Augenblick hier sein.", fügte Christoph noch hinzu. „Sie hat mir geschrieben, dass sie im Taxi irgendwo auf dem Mittleren Ring feststeckt."
Julia Bergmann. Die Violin-Legende. Sie war nicht einmal 30 Jahre alt und jeder aus der Musiker-Branche hatte bereits von ihr gehört. Als Tochter des berühmten Geigers Karl Bergmann war der Titel des Violin-Wunderkinds an sie weitergegeben worden, auch wenn Thomas diesen etwas übertrieben fand. Mit einem Wunder hatten ihre Spielkünste rein gar nichts zu tun. Sie war als Kind vermutlich nur den ganzen Tag von ihren Eltern dressiert worden und hatte gar keine andere Wahl gehabt, als sechs Stunden täglich Geige zu üben. Trotzdem: Sie war nicht schlecht. Wahrlich nicht schlecht.
Thomas war ihr erst einmal begegnet und das war nun schon 10 Jahre her. Sie waren bei Jugend Musiziert in der Kategorie Kammermusik - Streicher und Klavier in der Bundesebene gegeneinander angetreten. Sie mochte damals siebzehn Jahre alt gewesen sein, er nur wenige Jahre jünger. Seines Wissens nach hatte sie mit ihrem Pianisten - natürlich - den ersten Preis abgeräumt. Für ihn war nur ein zweiter Preis herausgesprungen, was allerdings vermutlich eher an Thomas Partner gelegen hatte, als an ihm.
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An deiner Saite
Teen FictionNach dem tödlichen Unfall ihrer Mutter und ihres Bruders versucht Elisabeth zu vergessen. Sie will einfach nur noch das Leben einer normalen Achtzehnjährigen führen, um die Vergangenheit, in der sie Profimusikerin werden sollte, hinter sich zu lasse...