Szene J

1.5K 114 6
                                    

Atemlos vom Fahrradfahren, den Geigenkasten auf dem Rücken, klingelte Ellie an der Haustür. Sie musste mit Felix reden, keinen Tag länger würde sie ihn mit seinem momentanen Gemütszustand davonkommen lassen. Das hatte sie vorhin beschlossen, als Frau Hiebig ihr zum tausensten Mal den korrekten Bogenstrich für die Allegro-Stelle des Violinkonzerts eines berühmten Komponisten, dessen Namen Ellie ständig vergaß, demonstrierte.

Felix Mutter öffnete die Tür, was Ellie überraschte. Sie traf Angelika nur selten an, meistens war sie auf der Arbeit oder hielt sich im Bürozimmer auf. Felix Eltern waren beide in einer Unternehmungsberatung tätig und daher häufig in der ganzen Welt unterwegs.

"Hallo Ellie, das ist ja eine Überraschung.", begrüßte Angelika sie mit einem Lächeln.

"Hallo. Ist Felix da?" Ellie hatte keine Zeit für Smalltalk. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.

"Er müsste in seinem Zimmer sein. Schau doch mal nach oben."

Das Mädchen zog sich Jacke und Schuhe aus und stiefelte die Treppe hinauf.
Bis jetzt war sie eher selten bei ihm zu Hause gewesen, normalerweise war Felix bei den Leibachs zu Gast, nicht umgekehrt. Trotzdem kannte sie sich gut genug aus, um ohne zu überlegen auf seine Zimmertür zuzusteuern. Ellie klopfte kurz an, wartete aber nicht auf ein Herein.

Felix lag auf seinem Bett mit einem Lucky-Luke-Heft in der Hand. Überrascht blickte er auf als das Mädchen in sein Zimmer stürmte.

"Hast du schon mal was von Anklopfen gehört?", fragte er leicht säuerlich.

"Hab ich doch", antwortete Ellie schulterzuckend.

Der Junge legte das Heft beiseite und richtete sich auf.
"Was willst du?"

Die forschen Worte machten Ellie unsicher. Trotzdem ließ sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Alles hatte vor etwa acht Wochen begonnen. Jakob und Felix hatten beide für das Landesjugendorchester vorgespielt und bei beiden war das Vorspiel gut gelaufen. Allerdings hatte nur Jakob eine Zusage erhalten, Felix wurde abgelehnt. Im Cello war in diesem Jahr sowieso nur eine Person genommen worden und dieser jemand hatte sich erfolgreich gegen den Vierzehnjährigen durchgesetzt. Diese Tatsache hatte Felix mehr zu schaffen gemacht, als Ellie vermutet hätte. Das erste Mal hatte der Junge einen Rückschlag erlebt, während sein bester Freund mit seinen beiden berühmten Eltern immer das bekam, was er wollte.

Sechs Wochen später durfte Jakob bei der Probenwoche des LJOs dabei sein, Felix dagegen verbrachte die letzte Woche der Sommerferien zu Hause - mit Comic Heften, das Cello hatte er seit Tagen nicht mehr angerührt. Jakob hatte ihm in den letzten Tagen immer wieder Nachrichten geschickt, in denen er vom Orchester schwärmte und ihm immer wieder versicherte, dass er im nächsten Jahr bestimmt dabei sein würde.

"Jakob kann ein richtiger Arsch sein.", stellte Ellie nüchtern fest. "Der hat manchmal ein Einfühlungsvermögen wie ein Esel."

Felix lachte leise. "Woher weißt du, dass Esel kein Einfühlungsvermögen haben?", fragte er grinsend.

"Du weißt, was ich meine...", sagte Ellie und verdrehte die Augen. "Wahrscheinlich will er einfach nur angeben. Aber ich wette, dass er sich schon tausend mal gewünscht hat, du wärst dabei."

Felix zuckte mit den Schultern und machte es sich wieder in seinem Bett gemütlich.
"Warum genau bist du noch mal hier aufgekreuzt?", fragte er schließlich, als Ellie immer noch keine Anstalten machte, entweder zu sagen, was sie von ihm wollte, oder ihn in Ruhe zu lassen.

"Ich will, dass du aufhörst zu schmollen und dich wie ein kleines Mädchen zu benehmen."

"...sagte das kleine Mädchen...", kam prompt die trockene Antwort von Felix, woraufhin er einen festen Schlag auf seinen Arm erntete.

"Hör auf, mich immer zu schlagen."

"Du bist ja auch selbst schuld. Und irgendjemand muss dich wieder zur Vernunft bringen." Ellie marschierte kurzerhand auf den dunkelblauen Hartschalenkoffer zu, in dem Felix Cello verstaut war. Sie öffnete die Schnallen und holte das große Instrument heraus.

"Na los, spiel schon.", forderte sie Felix auf.

"Ellie, du nervst."

"Dann spiel ich eben."

Etwas ungelenk stellte sie den Stachel ein und setzte sich mit Bogen und Cello in der Hand auf den Stuhl am Fenster, vor dem ein Notenständer stand, der von Notenheften und -blättern nur so überquoll. Vorsichtig versuchte sich das Mädchen an einer Tonleiter, scheiterte jedoch kläglich. Obwohl Felix noch ein Siebenachtel-Cello spielte, waren ihre Finger viel zu klein. Der Bogen kratzte ungeschickt über die Saiten, während ihre Finger schiefe Klänge erzeugten. Felix verzog zwar das Gesicht, fühlte sich aber anscheinend nicht motiviert, selbst das Cello in die Hand zu nehmen. Schließlich gab Ellie es auf und legte das Instrument seitlich auf den Boden.

"Du bist echt anstrengend.", meinte sie.

"Und du bist nicht talentiert zum Cellospielen."

"Deswegen tue ich es ja auch normalerweise nicht. Also, bewegst du jetzt deinen faulen Hintern aus dem Bett?"

Langsam wurde Felix ungeduldig. Kleine Mädchen konnten richtig nervig sein. Zum Glück hatte er keine jüngere Schwester, die ihm ständig auf der Nase herumtanzte. Sie schien es einfach nicht zu kapieren. Sein Platz war nicht in der Musikerwelt. Selbst seine Eltern versuchten, ihm diese Tatsache tagtäglich einzureden. Ständig hieß es: Mach doch mehr für die Schule! Oder: Geh doch lieber zum Sport. Bis jetzt war er sich so sicher gewesen, dass er, genau wie Jakob, Musik studieren würde. Irgendwann würden sie gemeinsam auf der Bühne stehen und Solokonzerte spielen. Das Publikum würde jubeln, die Frauen lägen ihnen vor den Füßen. Und seine Eltern würden zugeben, dass sie sich geirrt hatten. Aber dazu kam es nun nicht mehr. Man hatte ihm recht deutlich gemacht, dass sein Niveau unter dem von Jakob lag.

"Ellie, geh einfach weg."

Mit einem Seufzer drehte sich das Mädchen um. Felix glaubte schon, sein Ziel erreicht zu haben, doch stattdessen öffnete sie ihren Geigenkasten und holte ihr Instrument hervor. Leise und zart stimmte Ellie eine Melodie an, die Felix nur zu gut kannte.

"Na komm schon", lockte sie ihn. "Sei kein Spielverderber. Jakob ist nicht da."

Kopfschüttelnd, aber mit einem Lächeln im Gesicht hievte sich Felix aus dem Bett und nahm das erste Mal seit Tagen sein Cello wieder in die Hand. Die Melodie war so einfach gestrickt, strahlte vor kindlicher Einfachheit. Wie machte Ellie das nur? Sie schaffte es immer wieder. Als sie das Stück "Für Felix von Ellie" zu Ende gespielt hatten, grinste sie zufrieden, als hätte sie die Goldmedaille gewonnen.

"Die waren ja schön blöd, dass sie dich nicht genommen haben."

Felix zuckte mit den Schultern. Vielleicht waren sie das tatsächlich.

"Aber du gibst nicht auf, stimmt's?" Sie sagte es mit so einer Überzeugung in der Stimme, dass Felix lachen musste.

"Nein, eigentlich gebe ich nicht so leicht auf.", meinte er schließlich.

Stolz packte Ellie die Geige wieder in ihren Koffer. Sie hatte es geschafft, zumindest glaubte sie das.

"Dann kannst du ja jetzt üben.", sagte sie in ihrem Eifer. Felix verdrehte die Augen.

"Du bist echt nervig. Habe ich dir das heute schon gesagt?"

"Wir können auch Mario Cart spielen."

Das klang auf jeden Fall nach einem deutlich besseren Vorschlag. Normalerweise gab sich Felix nicht mit kleinen zwölfjährigen Mädchen ab, aber Ellie bildete eine Ausnahme. Immerhin war sie irgendwie doch wie eine kleine Schwester für ihn. Aufgeregt stürmte das Mädchen die Treppe hinunter, Felix folgte ihr. Vielleicht würde er sie ein oder zwei Mal gewinnen lassen. Solange sie sich nicht einbildete, besser zu sein als er. So nett war er schließlich auch wieder nicht.

An deiner SaiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt