Szene L

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Die Zusage des Landesjugendsinfonieorchesters kam nicht in einem coolen Brief, sondern lediglich per Email. Wie langweilig. Im Anhang befanden sich eine Übersicht der Werke, die sie spielen würden, einige Informationen über die Probenphase, sowie die Noten in digitaler Form.
Ellie scrollte an ihrem Laptop durch die Seiten und scannte das Notenbild auf schwierige Passagen ab. Sie war in die zweite Geige gesetzt worden, was ihr einen kleinen Stich gab, denn Jakob hatte in seiner ersten Arbeitsphase gleich am ersten Pult mitspielen dürfen.
Im Programm waren die vierte Sinfonie von Brahms, sowie Edvard Griegs "Peer Gynt Suite No.2" und die Festouvertüre von Schostakowitsch angegeben. Eine interessante Mischung.
Brahms 4. Sinfonie hatte Ellie schon live gehört, was nicht verwunderlich war.

Ständig wurden die Geschwister von einem Konzert auf das nächste geschleppt, denn wenn man Musiker werden wollte, musste man wenigstens ein bisschen Ahnung von seinem Handwerk haben - das war auf jeden Fall Julias Meinung. Am wichtigsten aber, so sagte sie immer, war es, mitreden zu können. Wenn alle Beiteiligten nach einem Konzert beieinander saßen und über irgendwelche Sätze irgendwelcher Sinfonien von irgendwelchen längst verstorbenen Komponisten redeten, musste man seinen Beitrag dazu leisten können. So etwas, wie: Ja richtig, ich war vor ein paar Jahren in Hinterwaldbach auf einem Konzert und der Hornist hat in seinem Solo drei Kiekser gehabt!
Als wäre es in irgendeiner Weise relevant... Aber man gab seinen Kollegen das Gefühl, etwas vom eigenen Fach zu verstehen.

Mit einem breiten Grinsen stürmte Ellie in das Zimmer ihres Bruders, um ihm die Neuigkeit gleich auf die Nase zu binden.

"Drei mal darfst du raten, von wem ich gerade eine Email bekommen habe!"

Ihr Bruder saß, den Laptop auf seinem Schoß, im Bett und erwiderte, ohne eine Miene zu verziehen: "Du bist im LJO, richtig?"

"Ja!", jubelte Ellie. Dass Jakob wenig beeindruckt schien, überging sie.

"Aber bitte sag mir nicht, dass du in der ersten Geige bist, sonst muss ich zusätzlich auch noch die Stimmproben mit dir aushalten."

Mit einem Schnauben drehte sich Ellie auf der Stelle um. Dieser arrogante Kotzbrocken, nie freute er sich für sie. Irgendwann würde sie es ihm schon zeigen.
Immerhin wurde sie von Felix überschwänglich beglückwünscht, als sie ihm eine Nachricht schrieb - wenigstens einer, der sie verstand.

"Sehr gut, mein Schatz.", sagte Julia, als sie von der Neuigkeit erfuhr. Doch zu größeren Gefühlsausbrüchen ließ auch sie sich nicht bewegen.
"Es hätte mich gewundert, wenn du nicht aufgenommen worden wärst."

Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. Wenn sie ehrlich war, hatte sie schon um den Platz bangen müssen, Anbetracht der wirklich starken Konkurrenz, gegen die sie im Vorspiel hatte antreten müssen. Aber das schien in dieser Familie ja niemanden zu interessieren. Also sparte sie sich die Mühe, ihren Vater im Klavierzimmer zu stören und setzte sich lieber an ihren Laptop, um sich die Stücke anzuhören und in den Noten mitzulesen. Wie es wohl sein würde, endlich einmal in einem richtig guten Orchester zu spielen? Ohne, dass man ständig Angst vor Ohrenkrebs haben musste?


Ellie, Jakob, zieht euch bitte um, wir gehen in 15 Minuten!", rief Julia die Treppe hinauf. Ellie stöhnte. Es war angekündigt gewesen, dass sie mit auf das Konzert mussten, aber Lust hatte sie trotzdem nicht.

"Boah, müssen wir echt mit? Wir haben das Programm doch schon letzte Woche gehört.", tönte es aus Jakobs Zimmer.

"Es geht nicht nur darum, das wisst ihr genau. Keine Diskussion, ihr zieht euch jetzt um."

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