Szene X

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Die Tage verschwammen ineinander. Was konnte das Leben noch bieten, wenn es nichts mehr gab, für das es sich zu leben lohnte? Die Momente, in denen der Schmerz für einen Augenblick verebbte, waren die besten, die erträglichsten. Würde das jemals wieder aufhören? Man sagte, Zeit heilt alle Wunden. Aber diese Wunde würde nicht heilen.

Ellie versuchte, die Tage zu überstehen, ohne zusammenzubrechen. Was konnte sie schon tun? Alles, was ihr etwas bedeutete, war ihr genommen worden. Seit Wochen hatte das Mädchen ihre Geige nicht mehr angerührt. Der dunkelrote Hartschalenkoffer war unter dem Bett gelandet, dort, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte. Sie hatte sich abgeriegelt vor dem Geschehen dort draußen. Denn wenn sie nichts und niemanden sah, konnte ihr niemand wehtun. Niemand konnte sie an das erinnern, was sie verloren hatte.

Leider erinnerte sich ihr Kopf von ganz alleine daran. Die Nächte waren zum Paradies geworden, das Aufwachen zur Hölle. Jeden Abend hoffte Ellie, ihrem Bruder und ihrer Mutter in ihren Träumen zu begegnen. Diese Treffen waren harmonisch und wunderschön. Meistens machten sie zusammen Musik, lachten gemeinsam. Und dann kam der Moment des Erwachens, wenn ihr Gehirn begriff, dass sie wieder nur geträumt hatte und sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.

Der einzige Halt war Felix. Immer, wenn es ihr schlechter ging, war er für sie da, tröstete sie, lenkte sie ab, hielt sie einfach nur fest. Es war zur Gewohnheit geworden, dass Ellie bei ihm übernachtete, wenn die Nächte besonders schlimm waren. Er war der einzige, der wirklich verstand, was in ihr vorging. Felix stellte nie unangenehme Fragen, wie Ellies Freundinnen. Er reagierte aber auch nicht vollkommen teilnahmslos, wie Thomas. Bei ihm konnte sie einfach ein Stück ihrer Last abgeben.

Manchmal fragte sich Ellie, ob das, was sie taten, wirklich gesund war. Es war nicht so, dass sie glaubte, er würde irgendwelche romantischen Gefühle für sie hegen. Aber ab und zu warf er ihr diese seltsamen Blicke zu, mit denen sie nichts anfangen konnte. Ellie wusste, dass er versuchte, für sie stark zu sein. Dass ihm das nicht immer gelang, war beiden klar. Auch Felix hatte einen Teil von sich verloren. Jakob und er waren Freunde seit der Grundschule gewesen, hatten wesentlich mehr miteinander geteilt, als nur ein Hobby. Sie waren wie Brüder gewesen und jetzt war einer fort. Wenn Ellie da war, erlaubte sich Felix nur selten schwache Momente, aber das Mädchen kannte ihren besten Freund gut genug, um zu wissen, dass er nicht in Ordnung war, so, wie er es immer vorgab zu sein.

Einen Monat nach dem Unfall begann Felix plötzlich, Ellie auszuweichen. Auf einmal hatte er keine Zeit mehr, musste üben, hatte Konzerte, übernachtete bei einem Kumpel. Ellie wusste nicht, was passiert war. Sie hatten weder Streit gehabt, noch hatte sich etwas Offensichtliches verändert. Je häufiger Ellie ihm schrieb, desto distanzierter und abweisender wurde Felix. Schließlich gab das Mädchen auf. Sie hoffte, Felix würde sich von alleine melden, denn sie hatte nicht die Kraft, sich verletzt zu fühlen, oder seine Beweggründe zu verstehen.

Tatsache aber war, dass die Albträume zurückkehrten. Nachts wachte sie schreiend auf, weil der LKW wieder einmal in das Auto ihrer Familie gerast war. Die Bilder waren so real und jedes Mal konnte sie nichts tun. Und Felix fehlte. Auch er hatte sie allein gelassen. Jetzt hatte sie niemanden mehr.

Ellies Oma begleitete sie zum Arzt. Sie war bei ihr und Thomas geblieben, denn die beiden brauchten sie nun mehr denn je. Friederike kochte, kaufte ein, kümmerte sich um den gesamten Haushalt. Thomas war wegen seiner Handverletzung stark eingeschränkt, nur von dem täglichen Friedhofsgang konnte ihn niemand abhalten. Lange Zeit hatte er versucht, seine Tochter zu überreden, ihn zu begleiten, doch Ellie weigerte sich. Der Schmerz war tagsüber erträglich geworden. Warum sollte sie es sich antun, Julia und Jakob zu besuchen, wenn es sie nicht zurückbrachte?

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