Szene 26

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"Ellie, wach auf." Felix rüttelt vorsichtig an meiner Schulter. Langsam öffne ich die Augen und muss blinzeln, weil die ersten Sonnenstrahlen direkt auf mein Gesicht fallen. Mein ganzer Körper schmerzt, ich bin wohl in einer unbequemen Lage eingeschlafen. Felix schaut lächelnd auf mich herab und da fällt mir alles wieder ein. Wir haben die ganze Nacht geredet und die Nähe des anderen genossen. Irgendwann zwischen drei und vier Uhr wollte ich unbedingt Klavier spielen und habe mich an den Flügel gesetzt. Das erste Mal seit Jahren. Es war ein seltsames Gefühl, anders als vor ein paar Tagen, als ich zum ersten Mal wieder eine Geige in der Hand hielt. Meine Finger waren ungelenk und es einfach nicht mehr gewohnt, sich unabhängig voneinander zu bewegen. Aber es hat Spaß gemacht.

Verschlafen kuschele ich mich tiefer in meine Decke und will die Augen schon wieder schließen, doch Felix lässt es nicht zu.

"In zehn Minuten kommt der Hausmeister, bis dahin müssen wir draußen sein.", flüstert er eindringlich.

Ich seufze ergeben und klettere aus dem Sitzsack. Felix hält mir meine Jeans hin, die die Nacht über der Heizung getrocknet ist. Schnell schlüpfe ich hinein und folge ihm zurück in das Cellozimmer, nachdem ich die Sitzsäcke in ihre ursprüngliche Position gerückt habe und die Decken zurück ins Regal gelegt habe. Felix hat bereits sein Cello in den Koffer gepackt und die Noten zusammengeräumt. Gähnend werfe ich einen Blick auf die Uhr, die über der Tür in dem kleinen Raum hängt. Es ist fast halb sieben. Viel zu früh für einen Montagmorgen, aber der Blick, den Felix mir zuwirft, lässt alle meine Lebensgeister erwachen. Schlafen kann ich auch noch, wenn ich tot bin.

"Und nun?", frage ich erwartungsvoll, als Felix die Haupttür der Musikschule hinter sich zuschließt. Er streckt seine Hand nach meiner aus und ich umschließe seine warmen Finger.

Seine Augen blitzen herausfordernd. "Ich bin für einen frühmorgendlichen Spaziergang."

"Wohin gehen wir?", frage ich neugierig. Doch Felix gibt keine Antwort und zieht mich hinter sich her. Im letzten Moment löse ich mich von seiner Hand und laufe los, um mein Fahrrad zu holen. Das hätte ich beinahe total vergessen.

Der frühmorgendliche Spaziergang entpuppt sich fast als Wanderung. Schon bald haben wir das Ortsschild von Friedstadt passiert und folgen einem breiten Feldweg. So früh ist noch kaum jemand unterwegs. Wir begegnen lediglich einem Jogger und einem Rentner, der seinen Hund ausführt. Die beiden werfen uns seltsame Blicke zu, vermutlich aber deshalb, weil ich das Dauergrinsen in meine Gesicht einfach nicht abstellen kann. Felix und ich wechseln nur das Nötigste an Worten. Ich glaube, ihm in der letzten Nacht jede Minute der letzten Jahre bis ins kleinste Detail geschildert zu haben. Auch wenn irgendwann die Müdigkeit Überhand gewonnen hat, habe ich nun das Gefühl, meinen Aufholbedarf in Bezug auf Felix Leben weitestgehend gestillt zu haben.

Nach einer dreiviertel Stunde ahne ich, was das Ziel unseres kleinen Ausflugs ist und mein Verdacht wird bestätigt, als wir in den schmalen Weg einbiegen, der entlang der steinernen Mauer führt, die ich das letzte Mal vor drei Jahren gesehen habe. Sofort werde ich langsamer und ziehe an Felix Hand, damit er stehen bleibt. Panisch blicke ich ihn an.

"Felix, ich kann das nicht.", murmele ich und weiche seinem Blick aus.

Er geht einen Schritt auf mich zu und packt mich an den Schultern. "Natürlich kannst du. Ich bin dabei, dir kann nichts passieren."

"Warum denn jetzt?", frage ich weinerlich. Die Angst, dass der ganze Schmerz wieder hochkommt, übermannt mich fast.

"Ellie, du bist ein starkes Mädchen und ich liebe dich. Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn wir Jakob nicht um Erlaubnis gefragt haben."

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