Szene W

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Das Allegro agitato im ersten Satz aus Tschaikowskys 5. Sinfonie wiederholte sich immer und immer wieder. Ellie versuchte weiterzuspielen, doch jedes Mal war sie abermals am Beginn der Stelle. Auf einmal öffnete sich die Tür und Jakob kam herein.

"Soll ich dir helfen, kleine Schwester?", fragte er mit einem schelmischen Lächeln und packte seine Geige aus.

Dann spielte er die sanfte Melodie aus dem zweiten Satz. Auf einmal rannen Tränen über das Gesicht des Mädchens.

"Komm her.", sagte Jakob und nahm Ellie fest in seine Arme. "Du brauchst doch nicht zu weinen." Dann ließ er sie los und stand auf.

"Wohin gehst du?", fragte Ellie ängstlich.

"Zum Konzert.", antwortete Jakob.

"Nein!", schrie sie. "Nein, geh nicht, geh nicht!" 

Doch Jakob hörte nicht auf sie und Ellie wusste, dass sie ihren Bruder nie wieder sehen würde.

"Nein!", rief sie immer und immer. Sie spürte, wie jemand vorsichtig an ihrer Schulter rüttelte, doch sie wollte nicht aufwachen. Das hier war ihre einzige Möglichkeit, bei ihrem Bruder zu sein.

"Ellie, jetzt wach schon endlich auf!"

Das Mädchen schlug die Augen auf und blickte in Felix sorgenvolles Gesicht. Ihre Kopfkissen war nass und alles fühlte sich verquollen an. Das war der schlimmste Augenblick des Tages. Der Moment, in dem sie die Realität wieder einholte und sie begriff, dass Jakob und ihre Mutter wirklich fort waren. Ellie wusste nicht, was schlimmer war: die Träume, in denen sie sah, wie der Laster in das Auto raste, oder die, in denen sie glücklich bei Jakob und Julia war. Jedes Mal, wenn sie einschlief, hoffte sie, von den beiden zu träumen, hatte aber umso mehr Angst vor dem Aufwachen.

"Tut mir leid.", murmelte Ellie. "Hab ich wieder geschrien?"

Felix nickte. "Geht es wieder? Glaubst du, du kannst schlafen? Wir haben noch vier Stunden."

Ellie zuckte mit den Schultern. Sie konnte Felix Silhouette nur erahnen. Er kniete neben der Matratze, die sie beide vor drei Tagen in sein Zimmer geschafft hatten. Seitdem schlief Ellie jede Nacht bei Felix. Sie hatte die Leere, die nun in ihrem Zuhause herrschte, nicht mehr länger ausgehalten.

"Darf ich wieder zu dir kommen?", fragte sie, traute sich aber nicht, ihm in die Augen zu sehen.

"Ja, kein Problem.", antwortete ihr bester Freund und stand auf, um ein wenig Platz in seinem Bett zu schaffen. Ellie nahm ihr Kissen und ihre Decke und legte alles auf die rechte Seite seiner Matratze. Dann kroch sie unter die Decke, spürte Felix Hand, die nach ihrer tastete und ihr das Gefühl gab, nicht allein zu sein.  Wenigstens war ihr ein Bruder geblieben.


Ellie knöpfte das Hemd ihres Vaters zu. Vor zwei Tagen war er aus dem Krankenhaus entlassen worden, der rechte Arm lag in einer Schlinge und die linke Hand war komplett verbunden. Gestern hatte er die Diagnose bekommen, dass er nie wieder würde Klavier spielen können, auf jeden Fall nicht so wie früher. Damit hatte Thomas ein weiteres Stück von sich verloren.

Heute war der Tag gekommen, vor dem sich Ellie fürchtete. Der Tag, der die Tatsachen endgültig machen würde. Die Beerdigung. Sie trug eine schwarze Hose und die kurzärmelige schwarze Bluse mit den Steinchen. Nie war Ellie aufgefallen, dass sie bei jedem Konzert in der Farbe der Trauer gespielt hatte. Nur dieses Mal würde sie nicht zu einem Auftritt fahren, sondern auf den Friedhof.

"Thomas, seid ihr fertig?" Friederike, Ellies Oma väterlicherseits steckte den Kopf durch die Schlafzimmertür. Ihre Großeltern waren gleich am Tag nach dem Unfall angereist und hatten sich um Ellie gekümmert, solange Thomas noch im Krankenhaus lag. Außerdem hatten sie das meiste der Formalitäten erledigt. Julias Eltern waren beide schon verstorben, ein paar Verwandte würden heute zur Beerdigung kommen, genauso, wie Thomas älterer Bruder mit seiner Familie.

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