Szene F

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Der erste Musikunterricht in der Schule war stumpfsinnig und einfach. Die Schüler sollten sich in einen Kreis setzen und bekamen Klanghölzer und Rasseln in die Hand gedrückt. Ellie kam sich vor, als wäre sie in den Kindergarten zurückversetzt worden. Aber sie fügte sich ihrem Schicksal, auch, als sie langsam begannen, Notenwerte zu lernen. Sie musste lachen, als sie sah, wie ihre Sitznachbarin mit Buntstiften die halben Noten ausmalte und erntete dafür eine Ermahnung ihres Musiklehrers. Es war ihr ein Rätsel, weshalb wirklich niemand aus ihrer Klasse Noten lesen konnte. Sie hatte Noten lesen können, bevor sie schreiben gelernt hatte. Aber das war bei ihren Mitschülern anscheinend nicht so. Was taten denn die anderen Kinder den ganzen Tag, wenn sie keine Instrumente üben mussten? So saß sie die ganze Stunde da und hörte nicht auf, sich über die Dummheit der anderen zu wundern.


Mit der Zeit begriff Ellie, dass tatsächlich eher sie die Ausnahme bildete. Es war die erste Vorspielstunde, die Frau Hiebig veranstaltete, als das Mädchen zum ersten Mal verstand, dass sie überdurchschnittlich gut an der Geige war.

Das Vorspiel fand in dem größten Raum der Musikschule statt, ein fast rundum verglaster Pavillon, in dem vorne eine kleine Bühne integriert war. Die meisten Schüler sollten von einem Pianisten begleitet werden, so auch Ellie. Sie war kein bisschen aufgeregt, obwohl sie das erste Mal in ihrem Leben vor größerem Publikum spielte. Warum sollte sie auch nervös sein? Geigespielen war das, was sie am besten konnte und normalerweise verspielte sie sich nie, wenn sie ein Stück wirklich gut konnte und das Kleine Menuett von Mozart für Violine konnte sie im Schlaf. Vermutlich bräuchte sie nicht einmal Noten. Julia hatte sie für diesen großen Auftritt in ein hübsches Kleid gesteckt und ihre wilden Locken zu einem Zopf geflochten.

Leider hatte Frau Hiebig beschlossen, dass Ellie ganz am Schluss spielen sollte, so saß sie ungeduldig neben Julia auf ihrem Stuhl und ließ das furchtbar schiefe Geigenspiel der anderen Kinder über sich ergehen. Sie tat sich selber unglaublich leid, als sie hörte, wie schlecht die Instrumente mit dem Klavier zusammenstimmten und wie häufig die Kinder um fast Vierteltöne neben der Zielnote lagen. Dieses Vorspiel war der Horror für ihre Ohren.

Schließlich, nach über einer Stunde, durfte sie endlich die Bühne betreten. Ihr Korrepetitor schlug die Noten auf und gab ihr ein A zum stimmen. Das Klavier war ein bisschen tiefer gestimmt, als der Flügel daheim, merkte Ellie und versuchte möglichst schnell, ihre Geige an das neue A anzupassen. Dann warf sie ihrem Begleiter einen Blick zu und gab den Einsatz, so, wie sie es sich von ihren Eltern abgeschaut hatte, wenn diese miteinander spielten. Ein kurzes impulsives Luftholen genügte und der überraschte Pianist begann zu spielen. Ellie blendet die Zuschauer komplett aus, aber sie wusste, dass sie besonders gut sein musste, damit ihre Mutter später stolz auf sie war. Also versuchte sie, die Phrasen noch mehr zu gestalten, die Staccato Noten noch kürzer zu spielen und viel beschwingter zu spielen, als sonst.

Das Stück war bereits fertig, bevor sie überhaupt realisierte, dass es angefangen hatte. So ein Wunder. Die vielen Eltern und die Kinder brachen in Applaus aus. Ellies Blick huschte zu ihrer Mutter. War sie zufrieden mit ihrem Ergebnis? Sie hoffte es sehr. Ellie sah, dass Julia eine Videokamera in der Hand hielt, offensichtlich hatte ihre Mutter ihren Auftritt gefilmt. 

Das Mädchen machte eine tiefe Verbeugung, schnappte sich ihre Noten und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Julia wuschelte ihr über den Kopf und flüsterte ihr ein "Super gemacht, Schatz!" zu.

Ellie platzte fast vor Stolz. Sie war mit Abstand die Beste gewesen, niemand war auch nur ansatzweise an sie herangekommen. Sie merkte, wie die anderen Kinder, auch die Älteren, sie respektvoll musterten. Das fühlte sich gut an, auch wenn sie das Gefühl hatte, irgendwie ausgeschlossen worden zu sein.

Als sich nach dem Vorspiel alle noch mit einem Glas Cola oder Sekt unterhielten, kamen viele der Erwachsenen auf sie zu, um ihr zu gratulieren, doch von den Kindern wollte ihr keines sagen, wie toll sie gespielt hatte. In diesem Moment wünschte sie sich Felix und Jakob herbei.



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