Szene 5

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Nun sind es nur noch drei Wochen bis zum Beginn der schriftlichen Prüfungen. Nach meiner Therapiestunde mache ich mich gleich auf den Weg nach Hause. Ich habe mir einen Lernplan erstellt und werde mich jeden Tag zwei Stunden intensiv mit den drei Fächer beschäftigen, die ich schreiben muss: Englisch, PoWi und Mathe. Die mündlichen Prüfungen sind erst im Mai und in meinem Fall sind es die Fächer Deutsch und Geschichte.

Das Haus ist leer, wie immer. Mein Vater wird erst gegen acht Uhr nach Hause kommen. Er arbeitet viel zu viel. Aber nur noch ein paar Monate, dann hat er seine Umschulung beendet und wird auch mehr Geld verdienen.

Ich gehe sofort in mein Zimmer und stelle das Radio an, damit die Stille im Haus nicht so erdrückend ist. Wehmütig denke ich an früher. An das Leben und die Musik. Die viele Musik. Am liebsten würde ich mir eine Ohrfeige für diesen Gedanken geben.

Ich muss mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und krame die Matheunterlagen hervor.


Nach einer Stunde mache ich kurz Pause und checke meine WhatsApp-Nachrichten. Sabrina fragt mich, ob ich später noch zum Volleyball komme. Ich antworte mit einem knappen „Ja" und einem Smiley.

Dann geht es weiter mit Politik und Wirtschaft. Es ist eine Menge auswendig zu lernen und schon nach einer Viertelstunde habe ich das Gefühl, dass nichts mehr in mein Gehirn hineinpasst. Doch ich mache weiter, bis ich meine Tasche packe und zum Sport radele.

Als ich Sabrina kennenlernte, fragte sie mich, ob ich nicht Lust hätte, ihrem Verein beizutreten. Damals war es mein wichtigstes Ziel, neue Freunde zu finden und so sagte ich natürlich sofort zu. Der positive Nebeneffekt machte sich schnell bemerkbar: Ich wurde um einiges fitter, vor allem aber konnte ich behaupten, so etwas wie ein Hobby zu haben. Als Kind habe ich nie verstanden, was die Leute den ganzen Tag machten, wenn sie kein Instrument spielten. Jetzt habe ich eine Antwort auf diese Frage bekommen. Auch wenn ich es mir nie hatte vorstellen können: es gibt noch andere Dinge im Leben als Geigespielen.


Nach anderthalb Stunden Training mache ich mich wieder auf den Heimweg. Es ist mittlerweile acht Uhr und mein Magen knurrt unablässig. Nach einer schnellen Dusche beschließe ich, ein leckeres Abendessen für meinen Vater und mich zuzubereiten. Meine Haare fangen an, sich durch die Feuchtigkeit wieder wie wild zu locken, doch das Glätten am Abend lohnt sich nicht, wenn ich keinen Besuch mehr erwarte. Ich will gerade mit der Zubereitung des Essens beginnen, da höre ich, wie mein Vater die Haustür aufschließt.

„Hallo, mein Schatz!", begrüßt er mich. „Wie war dein Tag?"

„Gut", antworte ich. „Ich habe viel geschafft. Hast du Hunger?"

Mein Vater lächelt. „Klar, wie ein Bär."

Das ist gelogen, denn zehn Minuten später pickt er nur in seinem Essen herum. Stattdessen hat er schon fast eine halbe Flasche Wein geleert. Ich habe so das dumpfe Gefühl, dass es nicht der erste Alkohol war, den er heute zu sich genommen hat. Dafür hat er nie Appetit. Sein Körper ist dürr und blass geworden. Man sieht die Spuren der Arbeit und der schlaflosen Nächte. Genau genommen ist er derjenige, der dringend eine Therapie besuchen sollte. Aber darüber lässt sich nicht mit ihm reden. Schließlich muss er das Geld ins Haus bringen, das ist zumindest seine zugegeben eher hinkende Ausrede. Eigentlich ist sein Arbeitswahn gar nicht notwendig. Die Versicherung hat gut gezahlt... damals. Wir haben keine Geldsorgen, trotzdem vergräbt er sich in seine Arbeit.

„Wie läuft es mit dem Lernen?", will Thomas wissen.

„Ganz gut, ich bin im Zeitplan.", erkläre ich stolz. „Aber für heute mache ich Schluss. Ich wollte nur noch ein paar Bewerbungen entwerfen."

„Bewerbungen?", hakt er verwundert nach.

Wir haben nie so richtig über meine Zukunft gesprochen. Ich habe das Thema ihm gegenüber gemieden und er offensichtlich auch. Über solche Dinge rede ich lieber mit Nora, Basti oder meinen Freundinnen. Also mit Menschen, die einen normalen Durchblick in ihrem Leben haben. Ich weiß auch nicht so richtig, was er von mir erwartet. Aber offensichtlich mache ich den Eindruck auf ihn, als hätte ich mein Leben voll durchgeplant und ganz im Griff. Was ja schließlich auch so ist.

„Ja. Ich möchte mich für ein BWL Studium bewerben. Am liebsten in München."

Mein Vater schaut mich an, als hätte ich ihm soeben eröffnet, schwanger zu sein. „BWL?"

„Ja. Hast du etwas dagegen?"

Sein Gesicht verzieht sich. „Was ist mit der Hochschule, dem Konzertfach?", bricht es aus ihm heraus.

Ich muss lachen. Ein bitteres Lachen. Ich schnipse vor seinem Kopf herum. „Wach auf, Papa!", rufe ich. „Wann habe ich das letzte Mal an einem Klavier gesessen, geschweige denn, eine Geige in der Hand gehabt?"

Stille.

„Genau. Du erinnerst dich vielleicht. An der Beerdigung. Das ist jetzt über zwei Jahre her. Glaubst du ich werde in meinem Leben jemals wieder ein Instrument anfassen? Nein!" Meine Stimme ist nun so laut geworden, dass ich fast schreie.

Fassungslos starrt mein Vater mich an. Sein Gesicht verändert sich von erstaunt zu ärgerlich. „Aber wir haben es so gewollt. Deine Mutter und ich. Aus dir sollte etwas werden, jemand Bedeutendes."

„Jemand Bedeutendes?", wieder entfährt mir ein bitteres Lachen. „Es ist mein Leben und ich allein bestimme, was aus mir werden soll. Weder du, noch Mama haben da mitzureden. Ach richtig, ich vergaß. Mama kann nicht mehr mitreden." Tränen der Wut kullern über meine Augen. Ich fühle mich missverstanden und verletzt.

„Damit verrätst du sie.", antwortet er eisig.

Es ist ein Schlag ins Gesicht. Ich sehe ihn wie versteinert an. Seine Augen werden glasig und er schenkt sich von dem Wein nach. Langsam stehe ich auf und verlasse die Küche. Ich habe sie verraten. Ich habe sie verraten. Dieser Satz dreht sich wie ein Karussell in meinem Kopf. Ich habe sie verraten. Nein. Sie hat mich verraten.

Was wäre gewesen, wenn ich mich umentschieden hätte? Was wäre gewesen, wenn ich eines Tages die Geige an die Seite gelegt und gesagt hätte: Mama, Papa, ich möchte lieber BWL studieren. Hätten sie es zugelassen? Mich die ganze jahrelange Arbeit zunichte machen lassen?

Aber diese Frage muss mich nicht mehr beschäftigen. Die Arbeit wurde von ganz alleine zunichte gemacht. Wäre dieser Streit vor drei Jahren gewesen, wäre ich zu Jakob gegangen. Mein Bruder hatte seine Bestimmung nie in Frage gestellt. Es war sein Ziel und sein Wille gewesen, Soloviolinist zu werden. Aber genau genommen war es auch mein Ziel gewesen. Hätte er mich verstanden, wenn ich es mir eines Tages anders überlegt hätte? Vermutlich hätte ich lieber Felix angerufen. Jetzt ist niemand mehr da. Na ja, Felix ist da, aber nicht für mich.

Bis zu unserer Begegnung letzte Woche hatte ich lange nicht mehr an ihn gedacht. Das Problem ist, dass ich niemandem von meinem Streit erzählen kann. Nora würde nur einen Aufstand machen und meine Freunde wissen von nichts. Von gar nichts.

Ich schmeiße mich auf mein Bett und schalte den Fernseher ein. Das gehört auch zu den Dingen, die Menschen tun, wenn sie kein Instrument spielen können: Sie ziehen sich dumme Talkshows rein.

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