Szene N

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Das LJO hatte Ellie die Augen geöffnet. Nirgendwo sonst hatte sie jemals zuvor so eine Gemeinschaft erlebt, wie in diesem Jugendorchester.
Sie hatten am Tag bis zu zehn Stunden Probe hinter sich bringen müssen. Morgens und abends waren Tuttiproben vorgesehen gewesen, während sie nachmittags die einzelnen Stimmen im Register geübt und ausgestimmt hatten.

Am zweiten Tag hatte Valerie den Platz mit Isabella getauscht, was für alle Beteiligten vermutlich nur von Vorteil war. Ellie kam dieser Umstand auf alle Fälle sehr entgegen, denn dadurch gestalteten sich die Proben als wesentlich angenehmer. Die beiden waren leider nicht gemeinsam in einem Zimmer, aber das hatten sie sich für die nächste Probenphase fest vorgenommen.

Mit Florian, ihrem heimlichem Schwarm, wechselte das Mädchen die ganze Probenphase kein einziges Wort. Sie blieb dabei, ihn lediglich aus der Ferne anzuhimmeln. Isi war die einzige, der sie ihr kleines Geheimnis anvertraute. Natürlich konnte ihre Freundin sie voll und ganz verstehen. Es gab schließlich kaum ein Mädchen, das nicht auf den wirklich gut aussehenden Konzertmeister stand. Eine Chance hatten wohl die wenigsten bei ihm. Immerhin war er bereits seit anderthalb Jahren Jungstudent in Gießen und würde ab Herbst sogar im Bundesjugendorchester mitspielen. Da waren die Mädchen des LJOs definitiv unter seinem Niveau.

Ellie verbrachte die Abende oder Pausen nur selten mit Felix und Jakob. Die beiden hatten ihre eigene Clique, die irgendwie überwiegend aus Mädchen bestand. Besonders Felix schien ein Händchen für den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht zu haben, denn nicht nur einmal bekam Ellie mit, wie er mit ihnen lachte und flirtete. Ob er vielleicht sogar in eines der Mädchen verliebt war, traute sich Ellie nicht zu fragen. Nach der Aktion mit dem Bier hatte er sie kaum beachtet. Es war aber keinesfalls so, dass sich Ellie von ihm vor den Kopf gestoßen fühlte. Die Jungs machten ihr eigenes Ding, so wie sie ihres machte. Zuhause würden sie sowieso wieder genug aufeinander hängen.

Ellie freundete sich während der Probenwoche mit vielen Freunden von Isi an, die diese aus der Musikschule in Frankfurt kannte. Irgendwie war die Musikerwelt doch ziemlich klein, fand Ellie. Sie war erstaunt, wie viele Namen sie bereits von den Wettbewerben kannte, an denen sie schon teilgenommen hatte. Von vielen wusste sie, dass sie ihr Instrument extrem gut beherrschten und teilweise schon auf Bundesebene Preise abgeräumt hatten. Die meisten ließen sich allerdings nichts davon anmerken, wie gut sie wirklich waren.
Nur in den Reihen der Bläser hatte Ellie ständig das Gefühl, diese müssten ständig ihr Können unter Beweis stellen. Eine halbe Stunde vor der Probe konnte man sämtliche Einspielübungen in den verschiedensten Tonarten durch die Flure tönen hören. Die virtuosesten Fingerübungen wurden von den Holzbläsern getrillert, während die Blechbläser darum konkurrierten, wer den höchsten Ton aus seinem Instrument herauspressen konnte.

Generell war Ellie jeden Tag aufs Neue erstaunt, wie hoch das spielerische Können in diesem Orchester eigentlich war. Nach jeder Abendprobe sah sie Florian durch das Fenster des Registerproberaums der ersten Geigen üben und auch von Isi wusste sie, dass diese abends gerne noch einmal ihr Instrument auspackte. Das waren dann wieder die Momente, in denen sich Ellie unglaublich schlecht fühlte.

Es war das erste Mal, dass sie sich vornahm, mehr zu üben. Nicht nur, um ihre Eltern zufriedenzustellen, sondern einfach nur, um besser zu werden. Immerhin war sie doch diejenige, die Profimusikerin werden sollte, möglicherweise sogar Solistin. War sie dazu schon zu schlecht? Konnte sie das Niveau überhaupt noch erlangen, das von ihr gefordert wurde? Es war eine Woche voller Zweifel und voller Entschlüsse. Sobald sie nach Hause kam, würde sie mehr üben.


Julia war äußerst erstaunt darüber, wie viel Eifer Ellie auf einmal an den Tag legte. Vor der Probenphase des LJO hatte sie im Schnitt zwei bis drei Stunden am Tag Geige geübt. Obwohl das neue Schuljahr nach der Konzertphase des LJOs begonnen hatte, übte sie nun bis zu fünf Stunden. An einigen Wochenende waren es sogar acht. Woher dieser Übewahn auf einmal gekommen war, konnten sich Julia und Thomas nicht erklären. Aber sie beschwerten sich natürlich nicht. Die Fortschritte, die Ellie in dieser Zeit machte, waren beachtlich. Sie investierte mehr Zeit in Fingerübungen, übte schwierige Läufe bis ins kleinste Detail und sogar mit Stimmgerät. Normalerweise war Ellies Gehör stets ihr Stimmgerät gewesen, doch aus irgendeinem Grund wollte sie alles noch genauer haben. Noch akkurater, schneller und besser.

Dass sie die Schule dabei eher vernachlässigte, machte dem Mädchen wenig aus. Und solange ihre Noten im akzeptablen Bereich blieben und sie ihre Zeit statt Lernen sinnvoll für Geigeüben nutzte, sagten auch Thomas und Julia nichts.

Nicht nur Ellie hatte der Ehrgeiz gepackt, auch Jakob verbrachte viele Stunden täglich mit seiner Geige. Für ihn war die Lage jedoch wesentlich ernster. Er würde in zwei Wochen bei Professor Iwanow für einen Platz als Jungstudent an der Hochschule vorspielen. Julia hatte bereits zwei Termine für einen Probeunterricht mit ihm ausgemacht und die Stunden waren ganz gut gelaufen. Herr Iwanow hatte immer wieder betont, Jakob würde schnell lernen und die Dinge, die ihm gesagt wurden, gut umsetzen.

In den zwei Wochen vor seiner Aufnahmeprüfung hatte er sich dem gleichen Übewahnsinn ausgesetzt wie Ellie. Nicht selten kam es vor, dass er vollkommen entnervt in das Zimmer seiner Schwester trat, weil sie nicht aufhören konnte immer wieder die gleiche Stelle in Dauerschleife zu spielen, so lange, bis sie fehlerfrei funktionierte. Leider waren die Zimmerwände der Geschwister nicht absolut schalldicht, sodass der andere unweigerlich alles mitbekam. Langsam sehnte Ellie den Tag des Vorspiels herbei. Sie konnte das Max-Bruch-Konzert einfach nicht mehr hören.

Und der Tag kam. Jakob hatte die Nacht kaum geschlafen und am Morgen brachte er vor lauter Nervosität kein Frühstück herunter. Noch nie war es um so viel gegangen, wie um diesen Studienplatz. Da die Aufnahmeprüfung am Vormittag stattfinden sollte, war er an diesem Tag vom Unterricht befreit. Für Ellie wäre es vermutlich ebenfalls besser gewesen, gar nicht erst in die Schule zu gehen, denn die Stunden gingen an ihr vorbei, ohne dass sie auch nur merkte, in welchem Fach sie gerade saß. Ständig schaute sie auf ihr Handy und wartete vergeblich auf eine Nachricht von Jakob. Hatte er bestanden? Hatte er auch den Theorieteil bestanden? Und die Gehörbildung? Jakob hatte immer recht große Probleme mit den Rhythmusdiktaten...

Als sie von der Schule heimkam, gab es immer noch keine Nachricht von ihrem Bruder. Ungeduldig schrieb Ellie Felix an, doch der hatte auch noch nichts von seinem Freund gehört. Ellie wusste, dass Felix innerlich ziemlich eifersüchtig auf Jakob war. Sicherlich wäre auch er gerne schon an die Hochschule gekommen, doch dazu fehlten ihm die Kontakte und wahrscheinlich auch der Mut. Ellie hätte ihm so gerne geholfen, aber ihr war klar, dass das Problem eher bei seinen Eltern lag, als an ihm. Diese sahen es in keinster Weise ein, zusätzliche Energie in die professionelle Musikerkarriere ihres Sohns zu investieren. Natürlich bedeutete ein solcher Schritt auch, dass die Schule hinten angestellt wurde. Aber es bedeutete doch nicht, dass er kein Abitur schaffen würde! Anscheinend hatten sie noch nie davon gehört, dass Musik die Leistungsfähigkeit von Kindern förderte und positive Auswirkungen auf sprachliche Fähigkeiten hatte. Damit argumentierte Ellie immer, wenn sie die Musik der Schule vorzog. Musik machte klug, das war wissenschaftlich belegt. Wenn sie lieber eine Stunde länger Geige übte, brauchte sie für die Vokabeln nur noch die Hälfte der Zeit. So zumindest lautete ihre Theorie, die zugegeben leider nicht immer ganz aufging.

Endlich hörte sie das Auto in der Einfahrt parken. Aufgeregt lief Ellie die Treppe hinunter und öffnete erwartungsvoll die Haustür. Als Jakob ihr mit einem Strahlen im Gesicht entgegengelaufen kam, wusste sie, dass alles gut gelaufen war.

„Ich bin genommen!", jubelte er und drückte Ellie einen dicken Schmatzer auf die Wange.

Angeekelt, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht wischte sie sich übers Gesicht.
„Ich habs doch gewusst! Du musst mir unbedingt alles ganz genau erzählen!" Hinter Jakob kam Julia strahlend zur Tür herein.

„Herr Iwanow war schwer beeindruckt.", erzählte sie stolz und wuschelte durch Jakobs Locken. „Unser kleiner Streber..."

Gemischte Gefühle tobten in Ellie. Jakob war jetzt der Star der Familie. Der, der es mit seinen noch nicht mal fünfzehn Jahren in die Violinklasse von Viktor Iwanow geschafft hatte. Sie würde ebenfalls die Gelegenheit bekommen, sich unter Beweis zu stellen, doch das musste noch fast zwei Jahre warten. Wenn sie sich anstrengt vielleicht auch weniger.
Sie würde sich anstrengen.

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