Mir ist schon heute Morgen klar gewesen, dass dieser Augenblick irgendwann kommen würde und nun ist er da. Felix und ich haben uns sowieso schon zu lange in unserem kleinen Paradies versteckt, jetzt ist es an der Zeit, an die Arbeit zu gehen. Wie einfach es doch sein kann, Dinge zu verdrängen, aber uns ist beiden bewusst, dass wir die Sache hinter uns bringen müssen. Außerdem sind wir nicht die letzten Tage quer durch halb Europa gehetzt, nur um im letzten Moment kalte Füße zu bekommen.
Wir sitzen im Auto – mal wieder. Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich nur noch mit dem Fahrrad fahren, das habe ich gerade eben beschlossen. Die Straße führt direkt am See entlang in Richtung der Landzunge, auf der Bellagio liegt. Im Grunde habe ich schon damit gerechnet, dass dieses kleine Örtchen am Comer See die Stadt der Reichen und der Touristen ist. Doch je weiter wir hineinfahren, desto deutlicher wird, wie recht ich habe. Die Häuser haben alle einen herrschaftlichen, mediterranen Stil. Vermutlich handelt es sich bei den meisten um Hotels. Im Vorbeifahren kann ich einen Blick in die kleinen Gässchen erhaschen, die so typisch für Italien sind. An der Uferstraße stapeln sich die Souvenirläden und Restaurants, während im See kleine Motorboote dümpeln. In der Ferne kann ich größere Segelschiffe und sogar ein paar Yachten ausmachen.
Doch unser Weg führt uns wieder hinaus aus der Stadt. Die Straße schlängelt sich serpentinenartig den kleinen Berg hinauf, der hinter den Häusern aufragt. Hinter riesigen Einfahrtstoren und Mauern kann ich einen Blick auf die riesigen Gebäude erhaschen. Wer sich hier ein Grundstück leisten kann, wird auch mit dem Bau der pompösesten Villen keine Probleme haben. Je weiter es hinaufgeht, desto beeindruckender sind die Bauten, die rechts und links die Straße säumen.
Wenn ich ehrlich bin, wundert mich die Tatsache kein bisschen, dass unsere Sammler auch das Geld für eine Villa am Comer See haben. Das Ehepaar Kapenstein scheint aus Deutschland zu kommen, zumindest ihre Vornamen Gabriele und Joachim klingen sehr deutsch. Das gibt mir die Hoffnung, nicht auf Englisch zurückgreifen zu müssen.
„Da vorne müsste es sein.", sagt Felix auf einmal.
Er deutet mit einem Finger auf ein beige gestrichenes Haus, das zwischen den riesigen Zedern hervorragt. Ein beeindruckendes Tor aus verschlungenen Eisenstäben versperrt jedoch die Sicht auf weitere Details.
Felix fährt das Auto an den Straßenrand und stellt den Motor ab. Der kleine Golf sieht vollkommen fehl am Platz aus in dieser Gegend. Genau genommen sehe ich kein anderes Auto auf der Straße parken, vermutlich besitzt jeder Haushalt hier sein eigenes kleines Parkhaus.
Die Stille, die sich im Auto ausbreitet ist auf einmal sehr präsent. Keiner traut sich, den Anfang zu machen.
„Wollen wir los?", frage ich schließlich. Felix nickt stumm.
Es ist wirklich unglaublich, dass wir immer noch keinen besseren Plan haben, als einfach bei dem Ehepaar zu klingeln und ihnen unser Problem zu erklären. Ich habe keine Vorstellung, wie sie reagieren werden. Vermutlich nicht gerade begeistert.
Als wir vor dem riesigen Tor stehen, kann ich erst einmal gar nicht die Klingel finden. Doch schließlich entdecke ich eine sehr modern aussehende Schaltfläche mit einem Knopf, der entfernt die Ähnlichkeiten einer Klingel aufweist. Ich betätige den Knopf, in der Hoffnung, dass er tatsächlich die gewünschte Reaktion herbeiführt.
Felix steht dicht hinter mir. Er ist wesentlich nervöser, das kann ich spüren. Noch immer frage ich mich, warum er sich so schuldig gegenüber Jakob fühlt. Oder verpflichtet, ich kann es nicht sagen. Auf jeden Fall war er derjenige, der Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hat, Jakobs Geige wieder zurück zu bekommen.
Wir warten keine zwanzig Sekunden, als es in der Sprechanlage knackt und eine Stimme ertönt, die eine kurze, aber genervte Frage auf Italienisch stellt. Kurz begegne ich Felix Blick, der wahrscheinlich ebenso erstaunt ist wie meiner. Irgendwie sind wir fest davon ausgegangen, dass es sich bei dem Ehepaar um Deutsche handeln würde.
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An deiner Saite
Fiksi RemajaNach dem tödlichen Unfall ihrer Mutter und ihres Bruders versucht Elisabeth zu vergessen. Sie will einfach nur noch das Leben einer normalen Achtzehnjährigen führen, um die Vergangenheit, in der sie Profimusikerin werden sollte, hinter sich zu lasse...