Szene 23

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"Ellie, wach auf. Wir sind angekommen."

Mein Vater rüttelt sanft an meiner Schulter. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass ich im Auto sitze und dieses in unserer Einfahrt steht. Wir sind wieder zu Hause. Langsam richte ich mich auf und strecke meine steifen Glieder. Erst jetzt bemerke ich, dass ich den Geigenkoffer immer noch mit aller Kraft umklammere, als hinge mein Leben davon ab.

Etwas ungelenk klettere ich aus dem Wagen und hole meine Tasche aus dem Kofferraum. Nora kann ich nirgends entdecken, vermutlich hat mein Vater sie bereits nach Hause gefahren.

"Du hast die halbe Autofahrt verschlafen.", lacht mein Vater. Doch sein Grinsen entgleitet ihm, als er bemerkt, dass ich nicht in der Stimmung zum Rumalbern bin. Schnell schließt Thomas die Haustür auf und betätigt den Lichtschalter im Flur.

"Soll ich uns was kochen?", fragt er, doch ich schüttele nur den Kopf. Mein Vater gibt einen Seufzer von sich und gähnt. "Na schön, dann werde ich wohl ins Bett gehen. Wir sehen uns dann morgen, gute Nacht."

Mit diesen Worten stapft er ins Bad und lässt mich allein im Hauseingang stehen. Ich seufze laut, streife meine Schuhe ab und schleppe meine Tasche und den Geigenkoffer in mein Zimmer. Es ist schon nach Mitternacht, aber ich bin hellwach. Kein Wunder, ich habe ja auch lange genug im Auto geschlafen. Trotzdem werfe ich mich aufs Bett und strecke Arme und Beine in alle Richtungen.

Es fühlt sich an, als wäre es Monate her, dass ich mich hier für den Abiball hergerichtet habe, dabei sind gerade mal fünf Tage vergangen. Unglaublich, was in dieser Zeit alles passiert ist. Mein Leben wurde auf den Kopf gestellt - wieder einmal. Und wieder einmal stehe ich am Anfang und weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Und alles nur wegen eines dummen Instruments. Ich rolle mich auf die Seite und fische nach dem schwarzen Hartschalenkoffer.

Vorsichtig öffne ich den Kasten hole Jakobs Violine hervor. Für einen Moment wirft mich der intensive Geruch, der mir entgegenschlägt, aus der Bahn. Die Geige riecht so sehr nach meinem Bruder, dass ich jeden Moment damit rechne, ihn vor mir stehen zu sehen. Langsam fahre ich mit dem Zeigefinger die Konturen des Instruments nach, berühre die Saiten, die Schnecke, die beiden F-Löcher.

Ich durfte nur einmal darauf spielen. Es war Jakobs sechzehnter Geburtstag, an dem er die Geige erhielt. Mein vierzehnjähriges Ich hatte damals so lange gebettelt, bis Jakob mich zehn Minuten auf seiner neuen Geige spielen ließ. Natürlich unter genauster Beobachtung, damit ich ja nichts kaputt machte. Ich muss lächeln bei dem Gedanken an diesen Tag, gleichzeitig zieht sich mein Herz vor Sehnsucht zusammen. Was würde ich darum geben, wenigstens nur noch einen Tag mit meiner Mutter und meinem Bruder erleben zu dürfen.

Vorsichtig zupfe ich die A-Saite an und drehe gedankenverloren den Wirbel nach, bis die Saite wieder auf 442 Hertz genau stimmt. Den gleichen Prozess wiederhole ich bei der G-, E- und D-Saite. Dann hole ich Jakobs Bogen hervor und spanne ihn vorsichtig. Leise streiche ich über die erste Saite, doch der Ton klingt kratzig und ungleichmäßig. Kein Wunder, auf dieser Violine ist seit über zwei Jahren kein Ton mehr gespielt worden. Gedankenverloren durchsuche ich das keine Fach, das an der Stirnseite des Koffers integriert ist. Ich fische etwas Kolophonium hervor und streiche es über den Bogen. Das Metronom, das ich zwischen einem Putztuch und einer Pultleuchte finde, scheint nicht mehr zu funktionieren. Wahrscheinlich sind die Batterien leer, also lege ich es wieder zurück. Ich muss lächeln, als ich ein Foto entdecke, das zusammengefaltet am Boden des Faches liegt. Jakob, Felix und ich sind darauf zu sehen, ein Gruppenfoto, das nach der ersten Vernissage, auf der wir gespielt haben, aufgenommen wurde. Dieses Bild bringt so viele längst vergrabene Erinnerungen zum Vorschein, die wie eine Flutwelle über mir hereinbrechen. Damals hatte ich gerade meine erste Probenphase mit dem LJO hinter mir und beschlossen, ab so fort all meine Energie ins Geigenspiel zu stecken. Wie dumm ich doch gewesen bin, auf all die Dinge zu verzichten, die bei anderen das Leben eines jungen Mädchens ausmachten.

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