Szene 2

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„Elisabeth, schön dich zu sehen. Wie geht es dir?", begrüßt mich Nora.

„Gut, danke.", erwidere ich lächelnd. Ich setze mich auf das Sofa ihr gegenüber. Draußen regnet es immer noch, was ich leider zu spüren bekommen habe. Meine Jeans ist pitschnass.

„Magst du einen Tee?"

„Ja gerne, das Gleiche wie immer.", antworte ich dankbar.

Während Nora das Wasser aufsetzt und eine Tasse aus dem Schrank holt, fragt sie: „Was macht die Schule?"

Ich zucke mit den Schultern. „Nichts Besonderes, eigentlich. Ich hab heute 13 Punkte in Deutsch zurückbekommen."

„Herzlichen Glückwunsch." Nora freut sich immer, wenn sie das Gefühl hat, ich hätte mein Leben wieder im Griff.

„Und Sebastian? Seid ihr noch zusammen?"

„Klar", grinse ich.

„Sehr schön." Sie drückt mir die Tasse mit dem Teebeutel darin in die Hand und setzt sich wieder auf das Sofa. Forschend schaut sie mich an.

„Du hast gestern schon wieder zu viel getrunken.", stellt sie fest.

Verlegen starre ich auf meine Hände. „Es war das letzte Mal vor dem Abitur.", murmele ich. „Wir hatten einfach Spaß."

„Ich will dir ja auch nicht den Spaß verderben.", seufzt Nora. „Es ist nur so, dass dein Körper leider schon ein bisschen mehr einstecken musste als die deiner Freundinnen. Bitte sei ein bisschen vorsichtiger, wir beide wissen, wie so etwas enden kann."

Innerlich verdrehe ich die Augen. Jetzt fängt das schon wieder an. Sobald ich einmal ein bisschen Spaß haben will, fängt sie an, alles negativ zu interpretieren und in mir eine suizidgefährdete Süchtige zu sehen. Doch ich nicke reumütig. Diskussionen sind mit meiner Therapeutin ausgeschlossen – meistens lasse ich die Sitzungen einfach über mich ergehen und versuche, das Beste daraus zu machen. Mittlerweile habe ich Nora sogar irgendwie ins Herz geschlossen. Das Problem ist nur, dass sie immer sofort herausfindet, wenn sich etwas verändert, oder es mir schlechter geht.

„Was macht der Musikunterricht?"

„Es wird.", antworte ich wage. Was sie nicht weiß ist, dass ich in diesem Fach so viel Unterricht schwänze, wie es mir möglich ist, ohne, dass es sich negativ auf meine Note auswirkt.

„Keine Panikattacken mehr?", hakt Nora nach.

„Wie gesagt, es bessert sich."

Ich weiß, dass ich ihr mitten ins Gesicht lüge. Aber das ist eine Sache, mit der ich allein klar kommen muss. Irgendwie tut es mir leid, ihr nicht die Wahrheit zu sagen, aber schließlich will ich auch, dass sie zufrieden mit mir und ihrer Arbeit ist.

„Also muss ich nicht mit deiner Lehrerin sprechen?" fragt Nora.

„Nein, nein", antworte ich hastig. „Es sind ja sowieso nur noch ein paar Wochen, dann hat sich das mit der Schule ganz erledigt."

Meine Therapeutin lächelt. „Ich bin so froh, dass du dir so sicher bist, was du nach der Schule machen willst. Meine Tochter musste erst zwei Studiengänge ausprobieren, bis sie sich entschlossen hat, Lehrerin zu werden. Aber es war auch eine schwierige Phase für die ganze Familie. Holger und ich trennten uns genau zu der Zeit, als unsere Jüngste ans Gymnasium kam und Lena wollte wie ich Psychologie studieren. Offensichtlich war sie der Meinung, dass es wohl doch keine so gute Idee sei, so wie ich zu werden." Sie seufzt. „Auch für Amelie war es so schwierig. Bitte versprich mir, dass du dir gut überlegst, wen du später mal heiraten möchtest und mit wem du eine Familie gründest."

Ich lächele. „Das werde ich.", verspreche ich ihr.

Ich mag an Nora, dass sie so offen ist. Vieles, was sie über mich weiß, weiß ich auch von ihr - zumindest gibt sie mir das Gefühl, viel über sie zu wissen. Ich weiß, dass sie geschieden ist und zwei Töchter hat. Ich glaube, dass sie eine viel stärkere Bindung zu mir aufgebaut hat, als gut für uns wäre. Vermutlich bin ich in der langen Zeit, in der ich jetzt schon regelmäßig zu ihr gehe, wie ein drittes Kind für sie geworden. Als das mit mir und Basti angefangen hat, erzählte sie mir, dass sie sich nach ihrer Scheidung immer wieder erfolglos mit Männern traf.

„Ab einem gewissen Alter ist es schwierig, einen wirklich tollen Mann zu finden. Die meisten Guten sind nämlich schon vergeben.", hatte sie damals mit einem Seufzen erklärt.

Wir reden noch eine Weile über die anstehenden schriftlichen Prüfungen, über meinen Lernplan und über die Zukunft. Wie nicht anders zu erwarten kommt auch mein Vater kurz ins Gespräch, doch Nora lässt das Thema recht schnell wieder fallen.

Sie hat Thomas nie kennengelernt, doch sie weiß, dass er die letzte Konstante in meinem Leben ist. Der Letzte, der mich an mein altes Leben erinnert, abgesehen von meiner Großmutter väterlicherseits, aber die lebt irgendwo in Niedersachsen, ich sehe sie also kaum. Leider ist mein Vater auch die Person, die mich ständig wütend werden lässt und um die ich mir auch die meisten Sorgen mache. Ständig versucht Nora, mich zu überreden, ihn in eine Sitzung mitzubringen, doch ich lehne ab. Die Zeit mit ihr ist meine eigene Zeit und da möchte ich nicht meinen Vater mit hineinziehen. Außerdem würde er es gar nicht wollen. Immerhin habe ich ihm schon oft genug nahegelegt, einen Psychologen aufzusuchen.

Nach einer Stunde voll von Gesprächen, drei Tassen Tee und ein paar Keksen schüttelt Nora mir die Hand und entlässt mich.

„Bis nächste Woche. Machs gut!", verabschiedet sie sich und ich winke ihr kurz zu, bevor ich die Praxis verlasse.


Sobald ich zu Hause angekommen bin, schaue ich auf mein Handy und stelle fest, dass Sebastian versucht hat, mich anzurufen. Schnell wähle ich den Rückruf.

„Hey Bettie", höre ich seine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Alles klar?", frage ich. „Warum hast du versucht mich zu erreichen?"

„Ich darf doch wohl meine Freundin anrufen", stichelt er. „Eigentlich wollte ich wissen, was du so am Nachmittag treibst. Wo warst du denn?"

„Bei Sabrina.", antworte ich.

Ich muss ihn fast jeden Mittwoch anlügen. Er weiß nichts von den Therapiesitzungen und ehrlich gesagt habe ich auch nicht die Absicht, ihm davon zu erzählen. Meine Angst davor, dass er mich für geisteskrank hält, ist viel zu groß.
Schlimmer wäre es jedoch, wenn er in meiner Vergangenheit herumkramt und herausfindet, wer ich mal war und wer ich hätte werden sollen.

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