Szene E

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Julia sollte recht behalten: Das Geigespielen wurde besser. Wochen nach der ersten Stunde meckerte Frau Hiebig zwar immer noch an Ellies Haltung herum, aber immerhin durfte sie nun spielen. Das Mädchen war den sanften Violinenklang ihrer Mutter gewöhnt, ihr eigener Ton dagegen klang kratzig und unsauber. Zu Hause war Julia stets zur Stelle, sobald Ellie die Geige auspackte. Sie übte mit ihr, verbesserte sie ständig, zeigte ihr, wie sie den Bogen zu führen und die Finger auf die Saiten zu legen hatte. Für das fünfjährige Mädchen war eine Stunde am Tag Geige- und eine weitere Stunde Klavierüben langsam zur Normalität geworden. Freunde durften erst zum Spielen kommen, wenn sie mit dem Üben fertig war. Im Umkehrschluss hieß das, dass fast nie Freunde zu Besuch da waren. Ellies Welt und die von den anderen Kindern befanden sich schon jetzt in verschiedenen Universen.


Als das Mädchen mit sechs Jahren in die Schule kam, gehörte auch der Klavierunterricht bei Melanie der Vergangenheit an. Stattdessen ging sie nun zweimal in der Woche in die Musikschule. Der neue Klavierlehrer hieß Herr Straub und war ein älterer, aber ziemlich lustiger Mann mit einem Schnurrbart und einem grauen Lockenkopf. Ellie konnte jede Woche über seine Socken staunen, die immer die verrücktesten Motive, von Bananen über Smileys bis hin zu Notenschlüsseln, abgebildet hatten.

Seit ihr Großvater vor fast einem Jahr gestorben war, war nun Herr Straub wie ein Ersatz-Opa für sie geworden. Er erkundigte sich immer, wie es ihr ging, was sie in der Woche alles gemacht hatte und wie die Schule war. Ellie hatte oft das Gefühl, dass Herr Straub der einzige Mensch in ihrem Leben war, der sich wirklich Zeit für sie nahm, für sie ganz persönlich. Schon bald kannte er ihre Vorlieben, ihre Probleme und alles andere, was das Mädchen beschäftigte. Vor allem wusste er, welche Musik ihr gefiel und welche nicht. Bach fand Ellie langweilig, an Schumann dagegen hatte sie einen Narren gefressen.

"Eine kleine Romantikerin bist du", stichelte ihr Lehrer.

Ellie kicherte."Wieso Romantik?", fragte sie erstaunt.

"So nennt man die Epoche, aus der Schumann stammt. Wahrscheinlich heißt sie so, weil man die Musik so gut als Filmmusik für furchtbar kitschige Filme verwenden könnte."

Wieder musste Ellie lachen. Herr Straub hatte immer eine gute Antwort parat. Seine Stunden konnte sie genießen und sie wusste stets, dass sie gelobt wurde, wenn sie die Stücke brav geübt hatte. Im Geigenunterricht dagegen konnte sie an der Hand abzählen, wie oft Frau Hiebig ein "Sehr gut" auch nur in den Mund genommen hatte. Doch es war der eiserne Wille, der sie nicht aufgeben ließ. Sie wollte Geige spielen und zwar so gut, dass sie eines Tages mit Jakob und Felix zusammen musizieren konnte. Es kam natürlich nicht in Frage, einfach aufzuhören, das Üben war nun schon so normal wie das morgendliche und abendliche Zähneputzen.

Die beiden Jungs hatten vor einigen Wochen das erste Mal bei dem Wettbewerb "Jugend Musiziert" teilgenommen und prompt einen ersten Preis einkassiert. Bald würde die nächste Runde auf Landesebene stattfinden. Ellie war zwar mächtig stolz auf Jakob und Felix, aber andererseits auch eifersüchtig. Irgendwann würde sie auch bei dem Wettbewerb mitmachen und ebenfalls einen ersten Preis gewinnen. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Doch bis dahin hieß es üben, üben, üben... Ihre Mutter war positiv überrascht, als sie aus einer Stunde plötzlich zwei machte und Jakob war mehr als genervt.

"Ich kann das ewige Gequietsche nicht mehr ertragen", stöhnte er, als Ellie sich mal wieder mit ihrer Geige in ihr Zimmer verbarrikadiert hatte.

"Hey, mein kleiner Freund", ermahnte ihn Thomas. "Ich kann mich noch sehr gut an dich erinnern und auch daran, dass du damals nicht halb so viel Ehrgeiz hattest, wie deine kleine Schwester."

"Dafür aber mehr Talent", murrte Jakob.

"Jetzt ist aber Schluss, Jakob! Du magst vielleicht einen ersten Preis bekommen haben, aber das heißt noch lange nicht, dass du dich deswegen besser fühlen musst. Das Schlimmste, was Musikern passieren kann, ist, arrogant zu werden."

Julia wusste genau, wovon sie sprach. Die Eitelkeit war des Musikers bester und zugleich gefährlichster Freund. Sie hatte so viele Kollegen kennengelernt, deren Ego bereits über der Skyline Frankfurts schwebte, dass sie sich mittlerweile nicht mehr die Mühe machte, nach oben zu schauen. Und sie würde alles daran setzen, dass ihre beiden Kinder niemals anderen das Gefühl gaben, besser oder wichtiger zu sein. Sie wunderte sich sehr über Ellies Ehrgeiz und hatte den starken Verdacht, dass der plötzliche Übedrang tatsächlich etwas mit dem Erfolg der beiden älteren Jungs zu tun hatte. Ihre Jüngste wollte unbedingt dabei sein und das konnte sie verstehen. Es gab nichts Schöneres, als zu zweit oder zu dritt Musik zu machen. Nachdenklich durchforstete Julia das Notenregal nach Streichertrios, bis sie schließlich ein altes und abgenutztes Notenbuch in den Händen hielt. Ellie würde Augen machen.

Es war bereits später Nachmittag, als Jakob gefolgt von Felix nach Hause kam. Die beiden hatten beschlossen, jetzt auch noch mit Fußball anzufangen. Trotzdem schwirrten ihre Gedanken nur um die anstehende zweite Runde von "Jugend Musiziert", die in zwei Wochen in Kassel stattfinden würde. Doch bevor die Jungs den Flur betreten konnten, versperrte Julia ihnen den Weg und schickte sie gleich wieder nach draußen, um ihre verdreckten Schuhe vor der Haustür auszuziehen. Felix war nun schon so sehr ein Teil der Familie, dass niemand mehr fragte ob, sondern wann er kommen würde. Für Jakob war er der Bruder, den er nicht hatte und für Ellie war er alles: Bruder, Beschützer, Komplize, Freund.

Julia dirigierte die beiden in das Musikzimmer, wo Ellie konzentriert am Klavier saß. Sie hatte sich direkt nach der Schule für zwei Stunden mit einer Freundin verabredet, die mit ihr in eine Klasse ging. Dafür musste sie dann am Abend üben, das hatte sie mit ihrer Mutter ausgemacht. Als Felix und Jakob in das Zimmer reinplatzten, wollte sie schon lautstark protestieren, doch dann sah sie ihre Mutter, die grinsend ein Heft in der Hand hielt.

"Was wollt ihr hier?", fragte Ellie misstrauisch.

"Wir versuchen heute etwas.", sagte Julia lächelnd. "Alle Mann an die Instrumente!"

Sofort stürmten die Kinder los, um die Instrumente auszupacken. In der Zeit stellte Julia drei Stühle in einen Kreis und stattete diese jeweils mit einem Notenständer aus. Als Ellie ihre Geige aus ihrem Zimmer geholt hatte, staunte sie nicht schlecht.

"Darf ich mitspielen?", fragte sie ungläubig. Ihre Mutter nickte lächelnd.

"Auf einen Versuch wollen wir es heute mal ankommen lassen. Lass dir von den Jungs nur ja nichts gefallen."

Ellie nickte eifrig.

Jakob war kein bisschen begeistert. "Ernsthaft?", stöhnte er. "Mama, ich hab keine Lust, dass Ellie mitspielt.", beschwerte er sich. "Sie ist noch zu klein, um mit uns zu spielen."

Ein Blick reichte, um ihn zu Schweigen zu bringen. Felix schien sich zu freuen, denn er gab Ellie sofort die Faust. Die drei setzten sich, um ihre Instrumente einzustimmen, während Julia die Noten austeilte. Kurz betrachtete Ellie die Seite, aber es schien machbar zu sein. Ihre Mutter fragte, ob alle bereit waren und nach einem kurzen Nicken der drei Kinder zählte sie ein. Das Stück war sehr einfach, weit unter dem Niveau der Jungs. Aber für Ellie war es eine Herausforderung. Obwohl sie nur die zweite Violine spielte, hatten sich ihre Augen vor Konzentration zusammengekniffen. Doch sie liebte es. Sie liebte es, dabei zu sein, endlich. Ihr Klang vermischte sich so herrlich mit dem von Jakob und Felix, dass ihre Geige nun gar nicht mehr quietschig klang. Nein, es klang wunderbar. Als der letzte Dur-Akkord verklungen war, breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens aus.

"Nochmal!", rief sie voll Begeisterung. Felix strahlte zurück und auch Jakob schien ganz versöhnt.

"Geht doch.", lächelte Julia.

Sie übten noch zehn Minuten an dem Minuett, bis sie Ellie hinausschickte, damit Felix und Jakob noch ihr Duett für den Wettbewerb proben konnten. Doch Ellie verließ nicht den Raum ohne das Versprechen, dass sie bald wieder alle zusammen spielen würden.

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