Szene 7

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Ich bin bei Sabrina. Wir lernen gemeinsam für Mathe, das Fach, vor dem ich am meisten Angst habe. Nun sind es nur noch 10 Tage, dann geht es los. Mein Gehirn läuft so auf Hochtouren, dass ich Angst habe, es könnte jeden Moment zu qualmen beginnen. Auf dem Esszimmertisch stehen Salzstangen, die ich monoton in mich hinein schiebe. Wenn ich esse, kann ich besser denken und für die Analysis muss ich viel zu viel denken. Aber zum Glück habe ich eine so begabte Freundin. Sabrina möchte nach dem Abitur Mathe und Englisch auf Lehramt studieren. Ich muss sagen, dass der Job nicht verfehlt wäre, denn ohne ihre Hilfe, würde ich wahrscheinlich durchfallen. Das Problem ist, dass mir viele Grundlagen fehlen, die Teil der 9. Klasse gewesen waren. Leider hatte ich mit 15 Jahren besseres zu tun gehabt, als mich mit Mathematik zu beschäftigen. So spielt das Schicksal.


Nach zwei Stunden verabschiede ich mich dankbar von Sabrina. Wenn ich weiter solche Fortschritte mache, sehe ich wieder grün für eine zweistellige Note. Ich schließe mein Fahrrad auf und mache mich auf den Weg zum Sportplatz, wo Basti gerade sein Fußballtraining beendet hat. Mir ist bewusst, dass es ziemlich klischeehaft ist, den Freund vom Training abzuholen, aber ich weiß, wie sehr er sich darüber freut. Basti möchte den Abend bei mir verbringen mit einem guten Film, aber vor allem, um das Gehirn für eine Weile auszuschalten. Er sieht den schriftlichen Prüfungen wesentlich lockerer entgegen, aber langsam hat auch er kapiert, dass in zweieinhalb Wochen schon alles vorbei ist. Bei mir sind es sogar nur noch 14 Tage.

Als ich auf den Sportplatz komme, ist niemand zu sehen. Im Februar im Freien zu trainieren halte ich sowieso für absolut hirnrissig, aber das sind eben Jungs. Auf einmal sehe ich aus dem Augenwinkel ein Winken. Es ist Basti, der mit einer Sporttasche aus den Umkleiden kommt. Seine Haare sind noch feucht vom Duschen.

„Hey", sagt er, als er bei mir ankommt.

„Selber Hey", antworte ich lächelnd. Ich warte, bis er sein Fahrrad aufgeschlossen hat, dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg zu mir.


Mich macht das fremde Auto stutzig, dass vor unserem Vorgartentor parkt, aber ich sage nichts. Bestimmt haben unsere Nachbarn nur Gäste zu Besuch, die keinen anderen Platz mehr gefunden haben. Doch als ich die Haustür aufschließe, vernehme ich leise Stimmen von oben, die aus dem Arbeitszimmer meines Vaters zu kommen scheinen.

„Ich habe nicht gewusst, dass er heute Besuch erwartet.", sage ich verwundert zu Basti.

Plötzlich höre ich, wie die Stimmen lauter werden. Um einiges lauter. Es ist eindeutig eine männliche Stimme, aber nicht die meines Vaters. Der Besucher schreit etwas, das ich nicht verstehen kann. Leise ziehe ich mir Jacke und Schuhe aus. Ich will wissen, wer es schafft, meinen Vater so in Rage zu bringen. Es muss ein Bekannter sein, sonst wäre ein Gespräch doch bestimmt niemals so ausgeartet.

„Tu mir den Gefallen und bleib hier.", sage ich zu Basti. „Ich muss nachschauen, wer da oben ist."

Leise schleiche ich die Treppe hinauf. Auf keinen Fall möchte ich, dass Basti etwas von dem Gespräch erfährt, denn es würde mit großer Wahrscheinlichkeit Fragen aufwerfen, die ich ihm nicht beantworten will. Nun werden die Stimmen lauter und schließlich verstehe ich erste Wortfetzen.

„...Ich kann nicht glauben, dass du dich so unverantwortlich verhältst, Thomas."

Mein Atem stockt. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Es ist Felix. Was zum Teufel tut er hier? Zwei Jahre lang haben wir nichts von ihm gehört und jetzt taucht er hier einfach auf, ohne eine Ankündigung. Was will er?

„Du kannst mir gar nichts vorschreiben, was ich mit meinen Sachen machen darf und was nicht." Mein Vater scheint auf Hochtouren zu sein.

„Sie gehört ja nicht einmal dir.", schießt Felix zurück. „Sie ist ein Familienerbstück und wurde an Jakob weitergegeben, damit er sie an seine Kinder weitergeben kann. Und du willst sie versteigern? Sie war Jakobs Ein und Alles, alles worauf er stolz war! Dann gib sie wenigstens Ellie!"

„Ellie", lacht mein Vater verbittert. „Ellie hat seit zwei Jahren kein Instrument mehr angefasst. Ihr ist es scheißegal, was mit der alten Geige ihres Bruders passiert. Es hat sie noch nicht mal interessiert, als wir den Flügel verkauft haben."

Ich fühle mich, als hätte mir jemand eine Ohrfeige gegeben. Jakobs Geige? Das kann er nicht machen. Das darf einfach nicht wahr sein. Ich will mich bewegen, will ins Zimmer stürzen und meinen Vater wieder zu Vernunft bringen, doch meine Glieder fühlen sich an wie versteinert.

Felix Antwort kommt verzögert, als müsse er erst einmal mit dieser Information umgehen.

„Sie hat... nicht?"

„Kein einziges Mal."

„Verdammt, was ist mit euch passiert? Ist euch alles egal geworden? Diese Geige war sein Leben, sein Leben!"

„Ja und jetzt ist er tot."

Ich höre ein Krachen. Irgendetwas ist gerade Felix Wut zum Opfer gefallen.

„Ich werde das nicht zulassen, Thomas. Verlass dich drauf!"

Auf einmal geht die Tür, vor der ich kauere, mit Schwung auf und Felix läuft fast in mich hinein. Bevor er fallen kann, klammert er sich an meinen Schultern fest.

„Ellie", entfährt es ihm. Dann, wie von einer Tarantel gestochen, lässt er mich los und stürmt die Treppe hinunter. Ich höre nur noch ein Türknallen, dann herrscht Stille.

Schnell löse ich mich aus meiner Schockstarre und flüchte ebenfalls die Treppe hinunter, bevor ich meinem Vater begegne. Ich habe jetzt keine Kraft, mit ihm über den Vorfall zu diskutieren.

„Bettie?" Basti packt mich am Arm. Mist, ihn habe ich total vergessen.

„Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig. Das war doch der Typ vom Kino. Was wollte der hier? Ich glaube nicht, dass du ihn nur von einem Volleyballkurs deiner alten Schule kennst."

Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen, vollkommen ratlos, was ich tun soll.

„Nein, das war gelogen.", gebe ich schließlich zu.

Augenblicklich verfinstert sich Bastis Gesicht. „Also hatte ich doch recht. Du hattest mal was mit ihm. Aber was wollte er von deinem Vater?"

„Nein, so ist das nicht.", sage ich mit einer Stimme der Verzweiflung.

„Nein?" Basti hebt eine Augenbraue. Er glaubt mir nicht. Wie auch?

„Wir haben nie etwas miteinander gehabt. Das ist die Wahrheit."

Ohne ein Wort zieht sich mein Freund wieder die Schuhe an.

„Bettie, ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. Vielleicht sagst du mir ja irgendwann mal, was wirklich in deinem Leben so los ist und warum du mir alles verschweigst. Ich bin doch nicht blöd, ich merke genau, dass irgendwas bei dir kaputt ist. Ich habe noch nicht erkannt, wie groß der Schaden ist, doch langsam scheint er gigantisch zu werden. Ich würde dir ja gerne helfen, aber du lässt niemanden an dich ran. Stattdessen erfindest du dein Leben neu. Das kann ich nicht. Es tut mir leid."

Mit diesen Worten verlässt er das Haus. Und zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten befinde ich mich in Schockstarre. Langsam laufe ich die Treppe hoch bis in mein Zimmer. Ich schließe die Tür hinter mir ab und werfe mich aufs Bett. Nach einer halben Stunde klopft es leise an die Tür, doch ich ignoriere die Versuche meines Vaters, mit mir zu reden. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit falle ich in einen tiefen Schlaf.

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