Szene P

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"Was ist Professionalität?"

Ellie schaute ihren neuen Professor unsicher an. "Äh, wenn man etwas ernst nimmt?"

"Das geht schon in die richtige Richtung.", sagte Robert Leitner abwartend.

"Hm...", machte Ellie. Fieberhaft suchte sie nach richtigen Antworten, die ihren Professor zufrieden stellen würden. "Professionalität ist, wenn man mit Geigespielen Geld verdienen kann? Und wenn man immer pünktlich und gut vorbereitet ist?", versuchte sie es.

Wieder ein Nicken, doch ganz zufrieden schien er noch nicht zu sein. "Bist du professionell?"

"Ich denke nicht.", sagte das Mädchen verunsichert.

Es war Ellies erste Geigenstunde an der Musikhochschule und sie hatte hierfür mit Sicherheit genauso viel geübt, wie für die Aufnahmeprüfung. Und jetzt stand sie da, seit einer halben Stunde, und hatte noch nicht einmal ihre Geige ausgepackt. 
Sie hatte sich wirklich auf alles vorbereitet: hatte Tonleitern geübt, Fingerübungen rauf und runter gespielt und sogar ihre Mutter um Rat gefragt.
Und jetzt wollte man von ihr wissen, was Professionalität sei.

"Falsch. Ganz falsch.", protestierte Herr Leitner. "Du bist professionell. Warum? Weil du hier bist und von mir unterrichtet wirst. Sobald du Studentin bist, machst du etwas professionell. Das hier bestimmt deine weitere Karriere und ich will, das du es richtig machst."

Ellie nickte. Herr Leitner wirkte sehr einschüchternd auf sie. Er war noch relativ jung, aber in seinem Gesicht spiegelte sich jahrelange Erfahrung wieder. Man merkte ihm deutlich an, dass er schon Generationen von Schülern in die Profimusikerszene gebracht hatte und schließlich hatten Julia und Thomas ihre Tochter nicht einfach so in Robert Leitners Violinklasse gesteckt.

"Zuerst musst du wissen, wohin du willst. Willst du später in der Musikschule fünfjährige Kinder unterrichten oder willst du als Solistin in allen Konzerthäusern der Welt auftreten? Wenn du heute dein Ziel vor Augen hast, helfe ich dir, dorthin zu gelangen."

Das Mädchen nickte wieder, wusste aber nicht, was es dazu sagen sollte.
Natürlich wollte sie in allen Konzerthäusern der Welt auftreten. So wie ihre Mutter. Nie hatte sie daran gezweifelt, dass es anders sein würde. Doch nun stand sie hier und nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem es ernst wurde. Die Zeit an der Hochschule würde darüber entscheiden, wie gut sie wirklich werden würde.

"Was gehört dazu, um professionell zu sein?", fragte Herr Leitner erneut und schaute sie mit seinem unergründlichen Blick an. Doch bevor Ellie sich eine passende Antwort zurecht legen konnte, fuhr er schon fort.
"Professionell sein bedeutet, professionell aufzutreten. Das beginnt schon mit dem Äußeren. Wenn du ein Probespiel gewinnen möchtest, musst du professionell gekleidet sein. Das heißt: Keine Löcher in den Jeans, keine freizügigen Kleider, keine Tattoos, keine Piercings, kein Nagellack. Tadelloses Auftreten ist das Allerwichtigste.
Was gehört noch dazu? Du hast es schon gesagt."

"Äh, Pünktlichkeit?", fragte Ellie und versteckte hastig ihre Hände hinter dem Rücken. Heute morgen hatte sie extra für die Stunde den schönen blassrosa Nagellack aufgetragen, den sie von Natalie zur bestandenen Aufnahmeprüfung geschenkt bekommen hatte.

"Genau. Pünktlichkeit. Am Konzertabend bist du mindestens eine halbe Stunde vorher da. Bei mir reicht es, wenn du zehn Minuten vor Stundenbeginn eingespielt zur Stelle bist.
Was noch?
Zuverlässigkeit. Wenn du krank bist oder aus irgendwelchen Gründen nicht da bist, sagst du früh genug ab. Egal, ob es sich dabei um die Stunde, eine Probe oder ein Konzert handelt.
Du musst immer erreichbar sein. Nichts ist schlimmer, als Studenten, die nie ans Handy gehen.
Den vorletzten Punkt hast du ebenfalls schon genannt: immer vorbereitet sein. Was das angeht, lasse ich keine Ausreden gelten. Wenn ich dir diese Woche etwas aufgebe, musst du nächste Woche abliefern. Und da ist weder die Schule noch Weihnachten oder Geburtstage ein Grund, nicht zu üben."

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