Meine großen haselnussbraunen Augen schauen mich durch den Spiegel, der an meinem Kleiderschrank befestigt ist, erstaunt an. Fast zwei Stunden habe ich damit zugebracht, zu duschen, die Haare zu machen, mich zu schminken und in das bordeauxrote knielange Kleid zu steigen. Überall auf den Stoff sind kleine Perlen genäht, die eine Art Muster ergeben. Der Rock fällt in mehreren Schichten locker von meiner Hüfte herab, oben herum liegt das Kleid eng an. Ich trage passende Perlenohrringe und eine schlichte Kette. Meine Haare fallen in großen Locken herab, welche definitiv nicht ihrer Naturkonsistenz entsprechen. Aber es sieht gut aus, finde ich. Schließlich habe ich auch lange genug dafür gebraucht.
Ich zucke zusammen, als es an meiner Zimmertür klopft."Bist du startklar? Wir müssten langsam los!", ruft mein Vater durch die Tür.
"Einen Moment!", rufe ich und suche schnell mein Handy, eine Packung Taschentücher, einen Lipgloss und meine Geldbörse zusammen und befördere sie in eine kleine, zu dem Kleid passende Handtasche. Dann ziehe ich mir eine Strickjacke über und eile die Treppe hinunter. Nun fehlen nur noch meine hohen Schuhe, um das Bild perfekt zu machen. Der Abiball kann starten.
"Du siehst hübsch aus." Ein Lächeln stiehlt sich auf das Gesicht meines Vaters.
"Danke, du auch."
Ich freue mich über das Kompliment. Seit unserem Streit vor drei Monaten hat sich etwas bei ihm verändert. Er wirkt nachdenklicher, wortkarger und behandelt mich, als wäre ich aus zerbrechlichem Porzellan. Trotzdem bin ich heilfroh, dass ich ihn schließlich doch überreden konnte, mich auf den Ball zu begleiten. Es wäre traurig gewesen, wenn ich die einzige aus dem gesamten Jahrgang gewesen wäre, die nicht wenigstens ein Elternteil mitgebracht hätte. Mein Vater trägt einen schlichten schwarzen Anzug und eine dunkelrote Krawatte, die hervorragend zu meinem Kleid passt. Die Krawatte war ja auch mein Bestechungsgeschenk an ihn und es hat funktioniert. Er hat gar keine andere Wahl gehabt, als endlich mal wieder etwas anderes zu sehen, als unser Haus von innen und seinen Arbeitsplatz. Doch die richtige Überraschung kommt erst und ich bin mir nicht sicher, wie er darauf reagieren wird.
"Hast du die Karten?", fragt Thomas, als er das Auto aufschließt.
"Ja", antworte ich, nachdem ich noch einmal nachgesehen habe. Jeder Abiturient hat für den Ball drei Karten erhalten. Eine für mich, eine für meinen Vater und die letzte... Ja, ich bin gespannt, wie er reagieren wird.
Als wir zehn Minuten später die Schule erreichen, finden wir nur mit Mühe einen Parkplatz. Von allen Seiten strömen Jugendliche aus meinem Abschlussjahrgang in Richtung Turnhalle, die meisten sind in Begleitung ihrer Eltern oder Geschwister. Ich bin froh, dass das Wetter gehalten hat, so hat es jetzt am Abend angenehme 22 Grad. Die Unwetterfront hat sich erst für die nächsten Tage angekündigt. Wobei der Natur ein bisschen Regen Mitte Juni nicht schaden würde. Vor dem Eingang zur Turnhalle hat sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Überall werden Fotos gemacht und aufgeregte Stimmen und Lachen erfüllen den Schulhof. Mein Vater tritt unruhig hin und her.
"Was denkst du, wie lange das hier dauern wird?", fragt er mich leise. Ich zucke grinsend die Schulter.
"Sicher bis Mitternacht.", antworte ich. Mein Vater seufzt gequält. Dann lasse ich die nächste Bombe platzen.
"Papa, ich habe Nora eingeladen, sie hat die dritte Karte bekommen."
Der Blick meines Vaters ist ein Bild für die Götter."Du hast - was?" Er hat sie nie angerufen. Das weiß ich, weil Nora mich seit sechs Wochen jedes Mal damit nervt.
"Jetzt dreh nicht gleich durch, man könnte ja meinen, du hättest Angst.", lache ich. Nun muss auch mein Vater lachen.
"Du hast Nora, deine Therapeutin, eingeladen? Das war doch die, die ein Date mit mir wollte, richtig?" Ich sehe förmlich, wie sein Gehirn rattert und muss schmunzeln. Er ist eindeutig überfordert mit der Situation. Doch in einer Sache muss ich Thomas verbessern.
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An deiner Saite
Teen FictionNach dem tödlichen Unfall ihrer Mutter und ihres Bruders versucht Elisabeth zu vergessen. Sie will einfach nur noch das Leben einer normalen Achtzehnjährigen führen, um die Vergangenheit, in der sie Profimusikerin werden sollte, hinter sich zu lasse...