44

75 11 10
                                    


Jungkook bewegte sich vorsichtig von einem Sparren zum nächsten.

Die langen, schweren Holzbalken befanden sich in luftiger Höhe im Dachstuhl des Instituts, wo der Fechtsaal untergebracht war.

Das Balancieren auf dem Balken diente dem Gleichgewichtstraining und Jungkook hasste es jetzt schon.

Seine Höhenangst machte die ganze Angelegenheit zu einem Albraum, trotz des elastischen Seils um seiner Taille, das ihn daran hindern sollte, bei einem Sturz auf den Boden aufzuschlagen.

Vorsichtig ließ Jungkook sich auf einem Balken nieder und ließ die Beine baumeln.

Durch die geöffneten, halbrunden Bogenfenster strömte frische Luft herein und strich kühlend über seine verschwitzte Haut.

Jungkook hatte immer angenommen, Schattenjäger würden in ihrer robusten, lederartigen Montur trainieren, aber wie sich herausstellte, war diese Kleidung dem fortgeschrittenen Trainingsprogramm vorbehalten, das auch den Einsatz von Waffen vorsah.

Für die Sorte von Übungen, die Jimin ihm aufgetragen hatte, die seine Beweglichkeit, Schnelligkeit und Balance verbessern sollte, trug er lediglich ein leichtes Shirt und eine dünne Tunnelzughose.

Jungkook spähte hinab in den Schatten unter ihn. Wo steckte Jimin? Er war nur kurz verschwunden, um ein anderes Seil zu holen und einige Worte mit Taehyung zu tauschen, und wollte in fünf Minuten zurück sein.

"Und, willst du den ganzen Tag da oben bleiben?", fragte Jimin, trat in die Mitte des Kreidekreises und schaute zu ihm hoch.

Taehyung war hinter ihm in den Raum getreten. Er hatte die Ärmel seiner Montur hochgeschoben und reckte die Hände, als würde er die Luft des Fechtsaals berühren und sie auf seiner Haut spüren.

Er legte den Kopf in den Nacken, öffnete die Lippen leicht. Jungkook betrachtete ihn und errötete.

Der Anblick wirkte sehr intim, als würde er jemanden beim Wiedersehen eines geliebten Menschen beobachten.

Sein Blick fiel wieder auf Jimin unter ihm.

Im Gegensatz zu Jungkook trug er seine schwarze Kampfmontur, die fast schon seiner Haarfarbe glich.

"Ich dachte, du wolltest hier raufkommen.", rief er nach unten. "Hast du umdisponiert?"

Taehyung ließ sich auf dem Fußboden an der Wand nieder und beobachtete die Beiden.

"Ist 'ne lange Geschichte.", erwiderte Jimin grinsend. "Und, was ist jetzt? Willst du einen Salto üben?"

Jungkook seufzte. Saltoübungen zu machen, bedeutete, dass er sich vom Balken in die Tiefe stürzte und dann am elastischen Sicherungsseil hängend trainierte, sich von den Wänden abzudrücken, um die eigene Achse zu drehen und gleichzeitig Tritte auszuteilen, ohne auch nur einen Gedanken an den harten Boden und blaue Flecken zu verschwenden.

Er hatte Jimin dabei beobachtet und er sah immer aus wie ein fallender Engel, der mit wundervoller, tänzerischer Anmut durch die Luft wirbelte. Er selbst dagegen kugelte sich wie ein Kartoffelkäfer zusammen, sobald der Boden näher kam und es machte nicht den geringsten Unterschied, dass er wusste, dass das Seil ihn rechtzeitig auffangen würde.

"Komm schon, Jungkook.", rief Jimin. "Spring."

Widerstrebend schloss Jungkook die Augen und sprang. Einen Moment lang fühlte er sich, als würde er frei in der Luft schweben, doch dann hatte die Schwerkraft ihn wieder fest im Griff und er sackte wie ein Stein nach unten.

Instinktiv zog er Arme und Beine ein und kniff die Augen fest zusammen. Das Seil straffte sich und er federte zurück in Richtung Gebälk, ehe er erneut hinabsauste.

Als seine Geschwindigkeit allmählich nachließ, öffnete er die Augen und stellte dann fest, dass er etwa eineinhalb Meter oberhalb von Jimin in der Luft baumelte.

"Na super.", sagte er grinsend. "Anmutig wie eine Schneeflocke."

"Hab ich geschrien?", fragte Jungkook, aufrichtig neugierig. "Du weißt schon ... auf dem Weg nach unten."

Jimin nickte. "Glücklicherweise sind die anderen nicht da, weil sie sonst angenommen hätten, ich würde dich umbringen."

"Ha! Du kommst ja nichtmal an mich heran." Jungkook trat mit einem Fuß in seine Richtung und drehte sich träge am Seilende.

Jimins Augen funkelten. "Willst du wetten?"

Jungkook kannte diesen Gesichtsausdruck. "Nein ... nicht", setzte er rasch an. "lass das lieber."

Aber es war bereits zu spät; Jimin hatte es schon getan. Seine Reaktionen waren so schnell, dass man die einzelnen Bewegungen kaum sehen konnte. Jungkook nahm nur wahr, dass seine Hand zu seinem Gürtel griff und dann blitzte auch schon etwas in der Luft auf.

Im nächsten Moment hörte er, wie das Seil über ihm riss und er stürzte im freien Fall in die Tiefe, zu überrascht um laut aufzuschreien, und landete direkt in Jimins Armen.

Die Wucht des Aufpralls ließ ihn rückwärtstaumeln und sie krachten gemeinsam auf eine der dicken Turnmatten, Jungkook mitten auf ihm.

Breit grinsend schaute Jimin zu ihm hoch. "Na, das war doch schon viel besser.", bemerkte er süffisant. "Du hast überhaupt nicht geschrien."

"Dazu hatte ich auch keine Gelegenheit.", erwiderte Jungkook atemlos, nicht nur wegen des Aufpralls.

Die Tatsache, dass er mit gespreizten Armen und Beinen auf Jimin lag und seinen Körper dicht an seinem spürte, ließ sein Herz schneller schlagen.

Jimin musterte ihn aus dunklen Augen, dann streckte er seine Hand aus und strich Jungkook die Haare aus dem Gesicht. "Das war nur ein Scherz.", sagte er. "Du bist gar nicht mal so schlecht. Irgendwann kriegst du den Dreh noch raus."

"Du hättest mal Jimin bei seinem ersten Salti sehen sollen. Ich glaube einmal hat er sich sogar selbst gegen den Kopf getreten.", sagte Taehyung belustigt, der zu ihnen getreten war.

Peinlich berührt rappelte Jungkook sich rasch auf.

"Ich war elf!", rief Jimin empört, der sich nicht von der Stelle rührte.

"Siehst du?", sagte Jungkook und betrachtete Jimin, dann glitt sein Blick zu Taehyung. "Aber du bist bei diesem ganzen Zeugs vermutlich schon immer sensationell gewesen, oder?!"

"Ich bin sensationell zur Welt gekommen.", grinste Taehyung.

Jimin setzte sich auf und schob sich die Haare nach hinten.

"Hast du schon von dem toten Dämon gehört, der in einem Museum gefunden wurde? Ich vermute, dass Celiné deshalb zu Yoongi aufgebrochen ist."

"Ja.", bestätigte Jimin. "Ich habe vorhin eine Flammenbotschaft von ihr erhalten."

"Das hast du mir gar nicht erzählt.", warf Jungkook ein. "War das der Grund, warum es so lange gedauert hat, bis du mit dem Seil zurückgekehrt bist?"

Jimin nickte. "Tut mir Leid. Aber ich wollte dir keinen Schrecken einjagen."

"Soll heißen, er wollte die romantische Stimmung nicht verderben. Was schon passiert ist, als ich den Raum betreten habe, obwohl ich ein großer Romantiker bin.", erklärte Taehyung.

Jungkook hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. Er wünschte, dass Jimin ihm davon erzählt hätte, immerhin gehörte er nun auch in dieses Institut.

"Taehyung.", stöhnte Jimin.

"Wollen wir weiter trainien? Denn dazu seid ihr doch hier, oder? Oder war es doch zum Rumknutschen?"

Jungkooks Wangen färbten sich tief rot und Jimin schien tatsächlich zu überlegen, was sie machen wollten.

"Wir trainieren!", rief Jungkook laut und marschierte zur Strickleiter.


Metanoia || JikookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt