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Der Knoten der sich in seinem Kopf festgesetzt hatte löste sich allmählich auf, seine Sicht hatte nichts verschwommenes mehr an sich.

Seine Augen waren fest auf Jimin geheftet, der sich keinen Millimeter bewegt hatte, stattdessen schaute er eisern auf das Bild vor sich.

Wie kann das sein?

Entgeistert wandte Jungkook seinen Blick zu seinem Gegenüber, der ihn immer noch fest an sich gedrückt hielt.

Taehyung.

Entsetzt stieß er ihn an seiner Brust von sich, der benommen rückwärtstaumelte und leise fluchte. Eine Schockstarre überkam ihn, als er seine Hand von Taehyungs T-Shirt nahm, das sich irgendwie feucht und klebrig anfühlte.

Mit einer seltsamen Distanziertheit schaute er auf seine Handflächen und verstand im ersten Moment nicht was er sah: eine silbrige Substanz, vermischt mit einer roten Flüssigkeit.

Blut.

Ruckartig blickte er hoch. Von der Decke über ihnen hing, wie eine gruselige pinata, ein menschlicher Körper, an den Fußgelenken mit Seilen festgebunden. Blut tropfte aus der aufgeschlitzten Kehle.

Jungkook wollte schreien, doch brachte keinen Laut von sich. Blut klebte in Taehyungs Haaren, auf seinem T-Shirt und auf seiner nackten Haut.

Tränen brannten ihm in den Augen, hastig stürzte er zu Jimin, der ihn emotionslos ansah, zumindest schien es für Jungkook in diesem Augenblick so.

Langsam streckte er seine Hand nach ihm aus, wollte von ihm in die Arme genommen werden, Jimins Schutz um sich spüren, das Gefühl erneut spüren, als würden sich Engelsschwingen um ihn legen.

Doch eilig zog er seine Hand zurück. War das überhaupt Jimin?

Schwankend drängte er sich an ihm vorbei, er brauchte Luft.

Die Engelsstatue sah nicht mehr so aus, wie Jungkook sie in Erinnerung hatte: Die schwarzen Schwingen hatten sich in Fledermausflügel verwandelt, das anmutige, gütige Gesicht war zu einer höhnischen Fratze verzogen.

Von der Gewölbedecke hingen an verdrehten Seilen die Leichen von Männern, Frauen und Kindern, mit aufgeschlitzten Kehlen, aus denen das Blut wie Regen herabtropfte.

Die Springbrunnen spuckten pulsierendes Blut und auf der Oberfläche der roten Flüssigkeit schwammen keine Blütenblätter, sondern abgetrennte Hände.

Auch die sich windenden Tänzer waren blutgetränkt.

Während Jungkook sich fassungslos umsah, kam das Paar von vorhin an ihm vorbei: ein großgewachsener bleicher Mann mit einer Frau, die mit zerfetzter Kehle schlaff in seinen Armen lag. Sie war eindeutig tot.

Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und beugte sich erneut über ihren Hals, doch zuvor warf er Jungkook noch einen Blick zu und grinste.

Sein Gesicht war verschmiert von Blut und silbriger Flüssigkeit.

Jungkook spürte Jimins Hand an seinem Arm, oder war es doch Taehyung?, der versuchte ihn in den Alkoven zurückzuziehen, hektisch riss er sich los.

Stumm starrte er auf die Wasserbecken an einer der Wände. Er hatte angenommen, dass leuchtend bunte Fische darin schwimmen würden. Doch die Flüssigkeit war trübe und schlammig und Wasserleichen trieben darin; ihre Haare schwebten um sie herum wie die Nesselfäden fluoreszierender Quallen.

Unwillkürlich musste Jungkook an Taehyung denken, den er für Jimin gehalten hatte, mit dem er solch einen intimen Schritt gewagt hatte, in solch einer Szenerie.

Ein Schrei bildete sich in seiner Kehle, doch er unterdrückte ihn, als eine plötzliche Übelkeit ihn überkam.

Strauchelnd lief er zur Wand und übergab sich stark hustend, Tränen liefen ihm über die Wange. Voller Furcht schloss er seine Augen, presste seine Hände auf die Ohren. Er wollte dieser Realität entfliehen.

Eine Hand berührte ihn sanft am Arm. Als Jungkook aufblickte sah er wie Jimin sich neben ihn gekniet hatte. "Jungkook ...", flüsterte er.

"Lass mich los.", wimmerte er und stand abrupt auf. Das war bestimmt nur wieder eine Halluzination. "Ich ... will zu Jimin.", schluchzte Jungkook und schubste die Person vor ihm weg.

Die Person die aussah wie Jimin.

"Wo ist mein Jimin?", schrie er.

"Jungkook. Ich bin Jimin."

"Nein! Nein! Nein!", murmelte er und trat mit einigen Schritten zurück zur Wand.

Rasch presste er seine Lippen zusammen, als erneut eine Lichtkugel über ihnen platzte. Die Menge tobte und er sah wie sich in der Mitte des Gewölbes eine Gruppe Irdischer wie hypnotisiert zu der Musik bewegte, umzingelt von Vampiren.

"Ich glaube dir nicht.", hauchte Jungkook, dann rannte er davon, er drängte sich durch die Menge zur anderen Seite des Kellers.

Hastig stolperte er die Stufen hinauf, wobei er auf einer rutschigen Stelle das Gleichgewicht verlor und mit dem Knie hart gegen die Kante traf. Sein Blick senkte sich auf die Steintreppe, sein Stiefel stand in einer Blutspfütze.

Sein Atem prasselte laut und wild in seinen Ohren, als er sich aufrichtete und so schnell wie er konnte zum Erdgeschoss rannte.

Hinter ihm hallten laute und unruhige Schritte, sie jagten ihn. Laut schluchzend bahnte er sich seinen Weg durch die tanzende Menge, die nichts von dem ahnte, was einen Raum unter ihnen geschah.

Die Blicke zahlreicher Irdischer lagen auf ihm: verwirrt, entsetzt, belustigt.

Draußen angekommen brach Jungkook an einem Springbrunnen zusammen. Die Tränen wollten nicht aufhören zu fließen. Was war das nur für ein Albtraum? Wo war Jimin?

Er rieb sich mit seinem Ärmel über die Augen. Sein gesamter Körper zitterte vor eisiger Kälte, aber auch vor der unfassbaren Traurigkeit und Angst die ihn wie eine eiserne Faust umschlossen.

Jungkook beugte sich über den Brunnenrand und schaute auf die glatte dunkle Wasseroberfläche. Er konnte sein eigenes Spiegelbild darin erkennen - seine Augen waren groß und verängstigt, sein Gesicht mit silberner und roter Flüssigkeit beschmiert, seine Haare zerzaust.

Bestürzt fasste er sich an die Wange und an die Haare. Blut. Er war voller Blut, Blut von den Leichen. Überstürzt füllte er seine Hände mit dem Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Fest rieb er sich damit über die Wangen und zuckte bei der Eiseskälte, die ihn überrannte als das Wasser mit seiner Haut in Berührung kam, zusammen.

Schluchzend wusch er sich sein Gesicht und ließ das Wasser über seine Haare fließen. Seine Lippen bebten.

Dann tauchte neben ihm ein Schatten auf und Jungkook sah wie Jimins Gesicht neben seinem auf der Wasseroberfläche auftauchte.

Erschrocken sah er auf sein Spiegelbild, das Wasser verschmolz mit seinen Tränen und rann an seinem Gesicht hinab.

"J ... Jimin?", seine Stimme zitterte.

"Ich bin es." Jimin nahm Jungkooks Kinn und drehte sein Gesicht zu sich herum. "Sieh mich an."

Jungkook sah ihn wie ein verschrecktes Tier an. Jimins Augen waren fast schwarz, doch er konnte so viele Gefühle in ihnen erkennen: Wut, Enttäuschung, Trauer, Angst, Erleichterung.

Wimmernd öffnete Jungkook seinen Mund, doch kein Ton kam über seine Lippen.

"Lass uns nachhause gehen.", sagte Jimin in solch einem sanften Ton, dass er gar keine Halluzination hätte sein können.


Metanoia || JikookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt