Zwei

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[Ein Knall reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Matrose hat die Tür aufgestoßen. Erschöpft öffne ich die Augen und seufze. Ich weiß, was kommen wird. Wir alle wissen es. Und wir alle fürchten das Urteil des betrunkenen Mannes.]

Ich kann seine Fahne bis zu meinem Platz in der hintersten Ecke riechen. Es ist doch jeden Abend dasselbe. Jeden Tag werden wir eine weniger. Ware, die schon entjungfert ist, lässt sich schwer verkaufen, lautet die Devise des Chefs auf dieser wackelnden Nussschale. Wenn ich nur an diesen Satz denke braut sich Wut in mir zusammen. Aber mein Plan lautet, mich unauffällig zu verhalten und mit etwas Glück unbeschadet hier herauszukommen.

Wie erwartet pickt er die Erste heraus, auf die sein Blick gefallen ist. Es ist ein rothaariges Mädchen, so weit ich das bei dem Dreck und den schlechten Hygiene Zuständen hier einschätzen kann. Sie dürfte wohl kaum älter als dreizehn sein. Ihre Augen hat sie weit aufgerissen und starrt erschrocken den Matrosen an, der auf sie zu torkelt. Sie hat schöne Augen. Grasgrün, hell leuchtend, wie das Gras, das ich nur in Büchern, nie aber in Realität gesehen habe. Gras, das es im Überfluss im sonnigen Land Sol gibt, zu dem wir unterwegs sind.

Vor Schreck bringt die Kleine zuerst kaum einen Ton heraus. Als der Matrose jedoch anfängt, rücksichtslos das weiße Oberteil, das sie trägt, in Fetzen zu reißen, weil er zu ungeduldig ist um sich mit Anstand zu benehmen, fängt sie an zu Kreischen und Tränen schießen ihr in die Augen. Durch die lange Zeit, in der wir alle geschwiegen haben, kann man kaum verstehen was sie lallt. So weit ich das beurteilen kann fleht sie, dass er sie in Ruhe lässt und jemand, irgendjemand sie erretten möge.

Alle schauen weg. Alle schließen die Augen und beten, dass es schnell vorbei ist. Schließlich ist es nichts neues mehr. Aber dieser Begriff - alle - schließt mich nicht mit ein. Der beste stumme Protest, den ich bieten kann, ist zuzusehen. Die Augen nicht abzuwenden und dem Mädchen still Kraft zu spenden, dass sie es seelisch übersteht.

Ihr Gejammere schraubt sich in die Höhe und sie lallt noch immer irgendwelche Bitten vor sich hin, während Heulkrämpfe sie schütteln und ihre Verteidigung umso schwacher aussehen lassen. Ich habe Mitleid mit ihr. Ich kenne sie nicht einmal, aber ich habe Mitleid mit ihr. Es könnte mich genauso gut treffen wie sie. Unbeeindruckt zieht der Matrose seine Hose aus und wendet seine Übermacht an, um die Kleine festzuhalten. Er wird es schnell und erbarmungslos tun, so wie seine Kollegen jedes Mal. Ein kurzes Vergnügen, nach dem er das Mädchen metaphorisch gesehen in die Mülltonne werfen wird.

Panisch legt die Kleine ihren Kopf in den Nacken und hält kopfüber meinen Blick fest. Fleht mich durch ihre Augen an, ihr zu helfen. Sie versucht zwar, um sich zu treten und den Mann vor sich abzuschütteln, aber er ist einfach zu stark für sie. Meine Haare sagen ihr, dass ich dazu in der Lage wäre, das Geschehen zu unterbinden - genauer gesagt meine Haarfarbe. Denn das schneeweiße Haar zeichnet mich lebenslänglich als Eisgeborene aus. Nur ist es nicht so leicht, die Magie des Eises anzuwenden. Ich kann es nicht auf Knopfdruck herbeirufen. Es kommt und geht wann es will.

Eine Erinnerung blitzt vor meinen Augen auf. Ich war einmal in ihrer Situation. Nicht hier, nicht heute, nicht in der Zeit, die ich mich schon hier befinde. Sondern vor Jahren einmal...


Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt