Vierundvierzig

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Auf unserer Reise gibt es kaum einen Augenblick, in dem wir einander anschweigen. Ausnahmen sind nur die Momente, in denen wir auf der Jagd sind oder schlafen.

Was beides nicht oft vorkommt.

Lucien und ich haben kaum Geheimnisse voreinander - die Distanz, die sich zwischen uns aufgetan hat, überwinden wir mit jeder Sekunde. Wir erzählen einander ohne zu beschönigen, was uns widerfahren ist.

Während man mich von der Öffentlichkeit abgeschottet hat, hat man Lucien vollkommen allein gelassen. Er hat sich eine Ausrede für die Bürger und uneingeweihten Adeligen ausdenken müssen, hat Zweifel und Sorgen ausräumen müssen, hat diese Last auf seine eigenen Schultern laden müssen.

Vergleicht man das mit der Folter, die ich durchgestanden habe, mag man es als "nichts" abtun. Aber das ist es nicht - es ist mindestens genauso schlimm wie die Folter. Ich wusste wenigstens was auf mich zukommt. Er wusste es nicht.

Ich musste nichts weiter tun, als meinen Verstand beisammen halten - eine Aufgabe, bei der ich mir nicht sicher bin, ob ich sie wirklich bewältigt habe -, während Lucien immer und immer wieder jeden noch so kleinen, unwahrscheinlichen Weg bedenken und jede Lücke in seiner Lügengeschichte stopfen musste.

Und während ich diesen Halsreif einfach nur ertragen musste, musste Lucien der Öffentlichkeit einreden, es sei ein modisches Schmuckstück - und es unter die Leute bringen. Der König von Sol scheint sie in Massenproduktion zu verkaufen, und wer ihn einmal anlegt, bekommt ihn nicht wieder ab - außer man kennt wie Lucien die genaue Methode.

Es gibt nur eine einzige Sache, nur ein Thema, über das er sich weigert zu reden. Dieser Narr hat bereits bekommen, was er verdient, hat der König gehöhnt, als ich ihn am ersten Foltertag darauf hingewiesen habe, dass Cheris Tochter - eine Feuergeborene, die unzählige Schmerzen erdulden musste - genauso gut auch Lucien hätte sein können.

Ich sehe Lucien an, dass die Strafe hart war. Ich sehe es an den Schatten, die seine Augen umwölken, als ich das Thema anspreche, ich sehe es daran, wie seine Schultern nach unten sacken, wie seine Hände sich zu Fäusten ballen und sich unkontrolliert öffnen und schließen, wie er den Blick beschämt niederschlägt. Es scheint geradewegs mit dem Druckmittel verbunden zu sein, mit dem man Lucien erpresst hat, damit er für die Halsreife wirbt.

Also bohre ich nicht tiefer. Stattdessen wechsle ich das Thema - nicht sehr gelungen. "Ist es noch sehr weit?", frage ich mit rauer Stimme.

Lucien starrt noch immer den Boden an und reagiert nicht. Er hat die Lippen fest aufeinander gepresst und sein Blick ist leer. Er ist in Gedanken bei vergangenen Ereignissen. Das ist meine Schuld.

Selbstbewusst straffe ich die Schultern, lege einen Finger unter sein Kinn und hebe sein Gesicht zu mir. "Lucien", beginne ich, wieder mit der Stimme der Königin, den Blick fest auf ihn gerichtet, "Ich weiß nicht, was geschehen ist. Aber was auch immer es war - es ist vorbei. Es ist geschehen." Ich mache eine Kunstpause, lasse die Worte sacken.

Er nickt leicht. Das werte ich als Zeichen, fortzufahren. "Sich deswegen Vorwürfe zu machen, führt zu nichts. Es macht dich nur kaputt. Der Schaden - wie auch immer er sich geäußert hat - ist geschehen, aber du kannst ihn immer noch ausgleichen, kannst den Fehler wiedergutmachen."

Zärtlich legt er die Hände um mein Gesicht und streicht mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Finger sind eiskalt - etwas, das ich nicht gewohnt bin. Trotzdem halte ich still und zucke nicht zusammen. So nah, wie wir uns gerade sind, waren wir nicht mehr, seitdem alles bergab gelaufen ist. "Und wie soll ich ausgleichen, dass meine Verlobte beinahe zu Tode gefoltert worden ist?", fragt er leise. "Wie soll ich den Schaden beheben, den diese Zeit deinem Geist angetan hat?"

Ich sehe die Verzweiflung, den puren Abgrund in seinen Augen. Ich sehe förmlich, wie mir zwei Wege zur Verfügung stehen:

Einerseits könnte ich zuschlagen, könnte ihn vollkommen zerbrechen, könnte mich an ihm rächen, dafür, dass er mich an seinen Vater verkauft hat. Ich könnte ihn regelrecht vernichten.

Andererseits... Ich habe ihm bereits verziehen - tief in mir weiß ich, dass es so ist. Die Wunde, die er aufgerissen hat, ist in diesen Tagen, die wir zusammen unterwegs sind, geheilt. Mit jedem Wort, das wir gewechselt haben, ist sie ein Stück mehr zugewachsen.

Also stelle ich mich auf die Zehenspitzen, lehne mich ein kleines Stück vor und küsse Lucien sanft. Es ist der erste Kuss zwischen uns, der von mir ausgegangen ist. Der erste Kuss, der sanft und zärtlich ist - und nicht aus purer Leidenschaft besteht. Als ich mich zurückziehe von seiner wohligen Wärme, die in starkem Kontrast zu seinen eiskalten Händen steht, bin ich mir nicht sicher, ob Lucien noch atmet. Mit großen Augen starrt er mich reglos an.

Mit einer ausschweifenden Bewegung deute ich auf den Wald um uns herum. "Den Schaden ganz zu beheben steht nicht in deiner Macht. Aber schau, wo wir sind - wir waren beide im Schloss eingesperrt, auf die ein oder andere Weise. Und jetzt sind wir frei."

Er will etwas einwenden, aber ich weiß, was er sagen will. Ich komme ihm zuvor. "Nicht du warst es, der mich gerettet hat, ja. Das war Linus. Aber Linus war unehrlich mit mir. Er hat mich angeschwiegen, hat mir nichts von seinen Plänen erzählt. Er hat vorgehabt, mich in Ketten zu legen. Und davor hast du mich bewahrt, mich beschützt. Du. Nicht er. Nicht sonst jemand. Du."

Lucien klappt seinen offenen Mund zu und mir fällt eine Last von den Schultern, als ich einen Funken in seinen Augen aufblitzen sehe. Aber wieder wird er unterbrochen, bevor er etwas sagen kann. Allerdings nicht von mir.


Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt