Vierzig

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Tag für Tag gehen wir so weiter, immer tiefer in den Wald hinein. Ich weiß nicht, in welche Richtung wir gehen und auf meine Frage, was unser Zielort ist, habe ich auch keine Antwort bekommen. Generell ist Linus sehr schweigsam.

Das Schweigen frisst mich regelrecht von innen heraus auf. Ich habe monatelang geschwiegen - die Worte wollen jetzt nur so aus mir heraussprudeln. Ich sehne mich nach unbeschwerten Gesprächen und harmlosen Neckereien.

Und mir wird mehr als je zuvor klar, dass es sie nie gegeben hat - nicht mit Linus. Es ist die Gesellschaft eines anderen, nach der ich mich sehne, aber ich weigere mich, den Gedanken weiter zu denken. Dieser andere hat mich verraten, hat mich geradezu verkauft an diese zeitweilige Hölle.

Aber ich schweige trotzdem. Wegen der Vorsicht, die in jedem von Linus Bewegungen liegt. Wegen der Anspannung, die er ausstrahlt. Wegen der langen Blicke, die er mir manchmal zuwirft. Wegen der Sorge und Angst in seinem Blick - gepaart mit noch etwas anderem. Wegen seinem übervorsichtigen Verhalten, das sich selbst nach einer Woche nicht gelegt hat.

Und wie es eben kommen muss, wenn ich gezwungen bin wieder zu schweigen und nicht über das Geschehene reden darf, verliere ich mich in Gedanken und Halluzinationen. Spöttisches Gelächter hinter einem Busch. Das Geräusch von Bogensehnen, die gespannt werden. Das Sirren, wenn ein Pfeil vorbeifliegen würde. Ein Flüstern an meinem Ohr, das mich auffordert, meine Macht zu nutzen - trotz des Halsreifs, der sich immer noch nicht lösen lässt.

Ich weiß, dass diese Töne nicht real sind. Ich weiß, dass sie nur in meinem Kopf existieren. Aber trotzdem machen sie mir zu schaffen. Und so kommt es auch, dass ich mich mit jedem Tag ein Stück weiter aus mir selbst zurückziehe - genau so, wie es in der Zelle der Fall war.

Irgendwann wehre ich mich nicht mehr gegen Linus Hilfe. Irgendwann versuche ich nicht mehr, ein Gespräch zu starten. Irgendwann wird mir alles wieder egal - Ort, Zeit, Richtung, Lautstärke. Menschen. Mit jedem Tag sehne ich mich mehr nach dem Feuerprinzen, der mir mit seinen neckischen Worten immer unter die Haut gefahren ist.

Irgendwann - wir liegen schon wieder in den Zweigen eines Baumes, um in der Nacht zu schlafen - deutet Linus mit dem Kinn in eine Richtung. Ich habe schon jede Orientierung verloren - wäre ich alleine, wäre ich wohl ewig im Kreis gelaufen. In jede Richtung sind nur Bäume zu sehen.

"Es ist nicht mehr weit", sagt Linus.

Wohin?, will ich fragen. Stattdessen nicke ich nur stumm.

"Morgen gegen Mittag werden wir den Wald verlassen haben", fährt er fort.

Und was machen wir dann?, erschallt es in meinem Kopf. Ich nicke wieder, wie eine Marionette.

Eigentlich hätten wir den Wald schon vor Tagen verlassen. Wenn Linus nur nicht darauf bestehen würde, jede Stunde eine kurze Pause einzulegen, damit ich mich erholen könne, wie er es ausdrückt. Dabei bin ich nicht einmal aus der Puste - nicht mehr.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt