Vier

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[Eine Erinnerung blitzt vor meinen Augen auf. Ich war einmal in ihrer Situation. Nicht hier, nicht heute, nicht in der Zeit, die ich mich schon hier befinde. Sondern vor Jahren einmal...]

Ich kann es nicht herbeirufen. Es kommt und geht wann es will.

So passiert es auch, dass die Temperatur in dem kleinen, fensterlosen, dunklen Raum auf einmal merklich sinkt. Alle sehen sie weg. Alle tun sie so, als würde ihnen nichts auffallen. Niemand will da hineingeraten. Und das ist gut so. Denn dann kommt mir auch niemand in die Quere.

In dem Moment, in dem der Matrose sein gutes Stück in Händen hält, bereit, zuzustoßen und dem unbefleckten Leben eines Mädchens ein Ende zu bereiten, erstarrt er. Wortwörtlich. Er erstarrt zu Eis, eine Skulptur, die sofort ihr Leben ausgehaucht hat. Es war schnell und schmerzlos. Er hat nicht einmal bemerkt, dass er sterben würde.

Stille breitet sich aus, nun, da die Gefahr für die Kleine gebannt ist. Die Erinnerung, die ich gesehen habe, hat mir einen solchen Hass auf Ketten und Handschellen beschert, dass ich ohne groß darüber nachzudenken ihre Fesseln zum Erstarren bringe, die daraufhin klirrend zersplittern. Sie ist frei und was sie mit ihrem Leben anstellt ist ihre Sache. Ob sie nun hoch geht, zu den anderen betrunkenen Matrosen, und versucht, einen von ihnen hinterrücks abzustechen oder ob sie hier bleibt, sich zusammenrollt und an ihrem Daumen nuckelt, hat nichts mehr mit mir zu tun. Ich habe ihr Freiheit beschert, die sie nun ausspielen kann, wie sie will.

In jedem Fall kann es nicht gut enden für sie. Wir befinden uns auf einem Schiff, weit und breit umgeben von tiefem Meer. Von Sol oder Luna keine Spur. Ich werde wohl oder übel mit dem Gewissen leben müssen, soeben ihr Todesurteil für sie unterschrieben zu haben.

Die Tränen auf ihren Wangen trocknen, die Panik weicht der stillen Wut, während die Minuten in fassungslosem Schweigen vergehen. Mit einem bösen Lächeln steht sie auf und versetzt der Skulptur vor sich einen kräftigen Stoß mit dem Knie - direkt dorthin, wo es einem Mann am meisten weh tut. Zwar fühlt er es nicht mehr - er fühlt gar nichts mehr - aber die Geste zählt. Mit einem lauten Scheppern zerbricht der zu Eis erstarrte Mensch, als er rückwärts Bekanntschaft mit dem Boden macht.

Wenn jetzt nicht alle wach sind, dann könnte die Nussschale wohl auch gegen einen Eisberg krachen und untergehen, ohne, dass jemand etwas bemerkt. Zugegeben, ich bin versucht, eben diesen Eisberg zu erschaffen. Aber weder bin ich lebensmüde, noch besonders gut im Schwimmen, noch kann ich meine abgekühlten Emotionen schlagartig wieder auf hundertachtzig treiben, daher löst sich diese Idee in Luft auf, wie so viele gute Vorschläge, die mein Gehirn schon mal gehabt hat. Zumal ich jetzt schon Kopfschmerzen habe - und dabei habe ich nicht wirklich viel Eis benutzt.

Mit einem Schnauben strafft die Kleine ihre Schultern, schickt eine obszöne Geste dem toten Mann hinterher und dreht sich dann schwungvoll zu mir um. Ein kleines Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus und sie steigt über die Beine der Anderen hinweg. Neben mir setzt sie sich auf den Boden und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Weder startet sie ein Gespräch, noch versucht sie zu fliehen. Sie genießt einfach die Nähe zu einem anderen Menschen und die freie Beweglichkeit ihres Körpers. Irgendwann haucht sie ein heiseres "Dankein den Raum und wandert in das Land der Träume.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt