Heute ist niemand gekommen. Weder der König in der Früh, um mich zu belästigen, noch die Soldaten, die tagtäglich eine Narbe mehr auf meinem Körper hinterlassen. Ich weiß es, noch bevor es geschieht - ein Sturm zieht auf.
Versteckt hinter meinen Haaren, die mir vor das Gesicht fallen und meine wahre Gemütsverfassung verschleiern, beobachte ich stumm, wie die Wachen einander ablösen. Wie sonst auch geschieht es ohne einen einzigen Laut, ohne das leiseste Geräusch. Aber anders als sonst, merke ich, wie der neue Wachsoldat mir immer wieder verstohlene Blicke zuwirft. Ich hätte ihn angeschnauzt, was es da denn zu glotzen gäbe, wenn ich gekonnt hätte.
Die Minuten verstreichen quälend langsam und betont bringe ich die Ketten dazu, zu rasseln. Wieder gleitet der Blick des Mannes zu mir herüber. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, da es von einem schweren Helm verdeckt wird, aber wenn er der ist, der ich hoffe, dass er ist, dann handelt es sich bei ihm um den Sturm, der alles beenden wird.
Irgendwann seufzt er schließlich tief, seine angespannten Schultern sacken nach unten und er nähert sich mir lautlos. Die Schweißperlen auf meinem Körper rasen mit meinem Herzen um die Wette - in diesem Verlies ist es stickig und schwül und heiß. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme, um es mir schwer zu machen, sollte ich fliehen wollen. Und sollte ich es je schaffen, gegen das Lapislazuli zu gewinnen.
Quälend langsam holt der Wächter ein kleines Kännchen aus seiner Seitentasche und kippt den Inhalt über die Scharniere der Tür. Dann zückt er seinen Schlüsselbund - alles lautlos - und sperrt das Schloss auf. Wie in Zeitlupe meine ich zu sehen, dass er auf mich zukommt. Kurz vor mir hält er inne, sucht in meinem Gesicht nach etwas.
Ich spüre, dass ich erschrocken aufkeuchen will, als ich in satte, braune Augen blicke. Ebenso braunes Haar lugt unter dem Helm hervor - braun, mit einem glänzenden, seidigen Schimmer, der unverwechselbar die Herkunft des Jungen ausdrückt. Mischling, hallt es in meinem Kopf wider.
Ich... Ich kenne den Jungen. Ich kannte ihn. Er war... so etwas wie mein Freund gewesen. Etwas zwischen Verbündeter, Bruder und Freund. Vor Überraschung habe ich die Augen weit aufgerissen, aber der Junge scheint immer noch nicht überzeugt zu sein. Vielleicht sehe ich nicht mehr so aus wie früher, vielleicht hat man etwas entscheidendes an mir verändert... Es ist viel geschehen - man hat viel mit mir, mit meinem Körper, mit meinem Geist und meiner Seele gemacht. Vielleicht ist die Veränderung so groß, dass er mich nicht so leicht wiedererkennen kann.
Hektisch blinzle ich, versuche, ihm irgendwie weiszumachen, dass ich es tatsächlich bin, dass ich Snow bin, dass ich das Mädchen bin, mit dem er auf einer Lichtung nachts einen gebratenen Fisch geteilt hat. Ein leiser Laut entfährt mir, irgendein Quieken - das erste Geräusch von mir seit Ewigkeiten. Meine Kehle brennt infolge dessen wie Feuer, meine Stimme ist rau und dumpf.
Er atmet erleichtert auf - offenbar hat er mich verstanden. Stumme Tränen laufen mir über das Gesicht.
Manholtmichmanholtmichmanholtmich
Manrettetmichmanrettetmichmanrettetmich
Eristdaeristdaeristda
Ererinnertsichanmichererinnertsichanmichererinnertsichanmich
Die Gedanken rasen mindestens genauso schnell wie mein Herz durch mich hindurch. Ich komme kaum dazu, mich auf etwas zu fokussieren.
Er kniet sich vor mich hin, greift nach den Ketten. Wieder entfährt mir ein Laut, wieder brennt meine Kehle vor Schmerz. Ich habe das Gefühl, ein Blitz zuckt durch mich hindurch, von meinem Fuß bis hoch zu meinem Bein. Er murmelt etwas vor sich hin, probiert einen Schlüssel nach dem anderen aus. Ein leises Klicken - dann spüre ich Luft an dem wunden Band um meinen Fuß herum und schluchze leise auf. Er sperrt noch die anderen Fesseln auf, und mein gesamter Körper wird geschüttelt von stummen Tränen.
Schließlich stehe ich auf meinen eigenen Beinen, die unter mir wegzuknicken drohen. Zu lange habe ich mich nicht mehr bewegt, habe keine Regung mehr getan. Stirnrunzelnd betrachtet er den Halsring, der mich noch festhält. Er tastet ihn nach allen Seiten ab, dann schüttelt er den Kopf. Es gibt kein Schloss, um ihn zu öffnen.
Entsetzen fährt durch mich hindurch. Der Halsreif ist an die Wand gekettet - wenn ich ihn nicht loswerde, kann ich auch nicht fliehen.
Und wenn man diesen Jungen, meinen Retter, hier bei mir findet...
Wenn man sieht, wie er mir helfen will...
Oh, es hat mich schon zerbrochen, es selbst ertragen zu müssen und zusehen zu müssen, wie man fremden Kindern Ungerechtigkeit angetan hat. Es bei diesem Jungen erleben zu müssen, würde mich umbringen.
In seinen Augen sehe ich, dass er dieselbe Erkenntnis erlangt hat. Und in seinen Augen sehe ich denselben Schock, der mich durchfährt, als lautes Fußgetrappel näherkommt und am Ende des Gangs ein Trupp Soldaten auftaucht, bis an die Zähne bewaffnet, komplett gepanzert. Und hinter ihnen, weit hinter ihren Reihen, in Sicherheit, steht der König, eine Hand auf seinen runden Bauch gelegt, und grinst mich grimmig an. "Willst du die Feier etwa vorzeitig beenden, Snow?", gurrt er.
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Burning Ice
Fantasi↬Wenn Feuer und Eis einander begegnen...↫ ...Wie ein Kaninchen drängt er mich rückwärts an die Wand. Er hält meine Handgelenke über meinem Kopf fest und nagelt mich förmlich an Ort und Stelle. "Nie wieder", knurrt er. In seinen Augen leuchtet die Wu...