Einundvierzig

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Bei Sonnenaufgang schüttelt Linus mich leicht und springt wenig später herunter. Wartend breitet er die Arme aus, um mich aufzufangen, so, wie er es jeden Morgen macht.

Ich hätte mich wohl gewundert, woher diese Kraft von ihm kommt - immerhin war er bei unserem ersten Treffen schmächtig und zierlich gewesen, während man jetzt Muskeln unter seinem Gewand erkennen kann -, aber dafür fehlt mir die Kraft. Und es ist mir ohnehin egal.

Ich lasse mich fallen, lasse zu, dass er mich auffängt. Lasse zu, dass er mich sanft und vorsichtig auf den Boden stellt, als wäre ich aus Glas. Wortlos nehme ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche, die wir regelmäßig an dem Fluss auffüllen, der uns auf unserem Weg begleitet.

Aber kaum habe ich die Flasche wieder zugeschraubt und wir unseren heutigen Weg angetreten, lässt ein leises Rascheln Linus wie erstarrt stehen bleiben.

"Seit wann bist du denn so fügsam, Flöckchen?", spottet eine Stimme, die ich kenne. Auch ich bleibe wie angewurzelt stehen, als Lucien, Prinz von Sol, hinter einem Baum hervortritt und sich mit dem Rücken an diesen anlehnt.

Seine feuerroten Haaren sind ein wenig durcheinander und verfilzt, als wäre er häufig mit den Händen durchgefahren, seine rotbraunen Augen sprühen Funken und tiefe Augenringe sind darunter zu erkennen, aber sonst scheint er unverletzt zu sein. Eine Art Last, von der ich nichts gewusst habe, fällt mir von den Schultern.

Betont schiebt Linus mich hinter sich. Eine Schutzreaktion - als könnte er mich schützen. Er besitzt keine Elementmacht. Ich schon - auch, wenn ich den Halsreif trage. Ich habe in den ersten Wochen versucht, meine Macht einzusetzen - und tatsächlich eine Art Fortschritt erkennen können.

Bei Luciens Anblick ist eine kleine Flamme, die schon zu glimmender Glut heruntergedreht worden ist, wieder aufgelodert. Trotzig stelle ich mich neben Linus, der mir einen langen Blick von der Seite zuwirft. Einen Blick, den ich gekonnt ignoriere.

"Und seit wann spionierst du mir nach, Flämmchen?", kontere ich und stemme lässig eine Hand in die Hüfte. Erst jetzt werde ich mir bewusst, dass ich seit unserer Flucht aus dem Schloss, noch immer das seidene Gewand trage, das nichts an meinem Körper der Fantasie überlässt.

Lucien versucht sein leichtes Zusammenzucken, als er meine rauchige Stimme hört, mit einem lautlosen lachen zu überspielen, während Linus von mir zu dem Prinzen sieht - und wieder zurück. Da liegt keine Überraschung in seinem Blick, keine Neugier, keine Frage. Er weiß also, wer ich bin - und er hat wohl auch eine Ahnung, in welcher Beziehung ich zu dem Prinzen stehe.

"Du spielst ein interessantes Doppelspiel, Rinderhirte", richtet Lucien nun das Wort an meinen Begleiter. Seine Stimme trieft vor Hohn und... unterdrückter Wut. Was war da zwischen den Beiden geschehen?

Linus schnippt nur mit einem kleinen Lächeln mit den Fingern und zwischen den Bäumen treten Soldaten hervor, allesamt bewaffnet und gepanzert. Ich merke, wie meine Augen groß werden. Woher kommen die Wachsoldaten? Seit wann folgen sie uns - und wem unterstehen sie?

Lucien schnaubt unbeeindruckt und wendet sich wieder an mich. "Du hast einen Teil deiner Freiheit zurückbekommen, Snow, und ich werde dir noch ein weiteres Stück davon geben. Ich", er hebt seine Hände, "wäre in der Lage, dieses scheußliche Dingsda an deinem Hals zu lösen", fügt er mit einer Grimasse in Richtung Halsreif hinzu. Er deutet mit dem Kinn auf die Soldaten, die ihre gespannten Bögen allesamt auf Lucien richten. "Es ist dir überlassen, ob du mit mir mitkommst, oder ob du weiterhin bei ihm bleiben willst--"

"Wie großzügig", fauche ich und presse die Lippen aufeinander. ich muss zugeben, dass die Aussicht, dieses vermaledeite Ding loszuwerden, wirklich verlockend ist - aber ich weigere mich, das zuzugeben. Meine Wut auf ihn ist schlagartig wieder da. Er hat mich überhaupt erst in die Misere hineingestoßen, in dem Moment, in dem er mir diese verfluchte Lapislazulikette um das Handgelenk geschlungen hat!

"Aber bevor du dich entscheidest, solltest du die Soldaten noch einmal genauer betrachten", knurrt Lucien und führt seinen Satz fort, als hätte ich ihn nicht unterbrochen.

Etwas in seiner Stimme lässt mich aufhorchen und über meinen emotionsgesteuerten Wall blicken. Also untersuche ich noch einmal die Soldaten. Ihre Kleidung sieht genauso aus wie die, die Linus trägt - nur, dass Linus Kleidung mit Leder verstärkt ist, während die Soldaten Rüstungsteile tragen. Sie ist von feiner Machart, sieht funktionstüchtig und teuer aus...

Teuer. Linus ist Rinderhirte. Wie kommt er an ein solches Gewand?

Lucien neigt kaum merklich den Kopf - eine stumme Bestätigung. Das war eines der Dinge , die mir auffallen sollten. Linus besitzt offensichtlich Geld, das er nicht haben sollte. Außerdem ist da seine Statur. Ich bin einige Monate weggewesen, ja. Aber diese Zeit reicht niemals, um aus einem schmächtigen Jungen wie er es gewesen ist, einen kräftigen Mann zu machen - nicht so kräftig, wie er es jetzt ist.

Und die Soldaten... Ich kann ihre Gesichter wegen der Helme nicht ganz erkennen, aber das, was ich sehen kann, lässt meinen Mund staubtrocken werden. Ihre Haare, die teils hervorragen, und Augen haben denselben Farbton - pechschwarz. Sie sind alle hochgewachsen und schlank. In ihrem Blick liegt eiskalte Grausamkeit. Das Wappen auf ihrer Brust bestätigt meinen Verdacht schließlich und ich fühle mich, als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube verpasst. Ein silberner Wolf vor einer weißen Landschaft.

Lunas Symbol. Das sind lunische Soldaten. Soldaten, die meinem Vater unterstehen - nicht Ice. Das entnehme ich der Kälte in ihrem Blick, der Trostlosigkeit, der Härte. Sie unterstehen meinem Vater.

Das hier ist keine Rettungsaktion gewesen. Es ist eine Jagd.

Wie vor den Kopf gestoßen taumele ich einige Schritte von Linus weg. Er hält den Blick fest auf Lucien gerichtet, den Mund zu einer schmalen Linie verzogen. Stumm hebt er eine Hand - ein Signal an die Soldaten.

Im selben Moment, in dem die Pfeile durch die Luft sausen, direkt auf den Prinzen zu, reißt dieser eine Feuerwand hoch, die ihn, Linus und mich umgibt. Zischend verglühen die Pfeile und fallen mitten in der Bewegung nutzlos zu Boden. Niemand kommt durch die Wand hindurch, außer Lucien will es.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt