[Im selben Moment, in dem die Pfeile durch die Luft sausen, direkt auf den Prinzen zu, reißt dieser eine Feuerwand hoch, die ihn, Linus und mich umgibt. Niemand kommt durch sie hindurch, außer Lucien will es.]
Lässig schlendert Lucien auf mich zu. Auf Linus Höhe bleibt er stehen und hebt wartend die Augenbrauen. "Die Entscheidung liegt bei dir, Snow."
Linus dreht sich verkrampft zu mir um. Sein Blick ist stahlhart. Besitzergreifend streckt er eine Hand in meine Richtung aus. "Komm her." Keine Bitte - ein Befehl.
Noch einmal weiche ich zurück. Das ist nicht der Linus, den ich zu kennen geglaubt habe. Der Linus, den ich kennengelernt habe, hat mich nie bedrängt. Er ist ein netter, einsamer, stummer Freund gewesen, der meinen Sorgen gelauscht und mir Ratschläge gegeben hat.
Nichts davon kann ich jetzt noch in ihm erkennen.
Ich atme zitternd durch, richte mich höher auf, balle die Hände zu Fäusten. "Erklär es mir. Alles." Die Stimme, die ich nutze, habe ich noch nie bei mir gehört. Es ist nicht die Stimme einer Prinzessin und auch nicht die einer normalen Bürgerlichen - es ist der Tonfall einer Königin, die keinen Widerspruch duldet. Und der rauchige Unterton macht es noch eindrucksvoller.
Als Linus nur schweigt, ergreift Lucien das Wort. "Kurz nachdem du von der Bildfläche verschwunden bist, sind Menschen in Panik ausgebrochen. Es scheint so, dass du dir einige Freunde gemacht hast", schmunzelt er. "Die Diener haben sich zu einer Art Widerstand zusammengeschlossen. Da gibt es eine Frau, die dir mehr darüber erzählen kann - vorausgesetzt, du entscheidest dich gegen deinen kleinen Freund."
Wenn Blicke töten könnten, wäre Linus jetzt wohl die Haut von den Knochen gebrannt worden - so hasserfüllt ist der Blick, den Lucien ihm zuwirft. "Auch er ist dieser Gruppe beigetreten - genauso wie ich. Aber im Gegensatz zu mir", Luciens Stimme wird auf einmal zuckersüß, "hat er beschlossen, uns zu hintergehen und auf die Vereinbarungen und Pläne zu spucken."
Fragend hebt Lucien wieder die Augenbrauen - er will es Linus überlassen, diesen Teil zu erzählen. Aber der ehemalige Rinderhirte steht nur weiterhin verkrampft da, die Hand ausgestreckt. Sein Befehl hängt noch immer in der Luft.
Ich nicke Lucien zu, ohne Linus aus den Augen zu lassen. Der Feuerprinz soll fortfahren.
"Er hat beschlossen, sich lieber mit deinem hochverehrten Vater zusammenzuschließen - der übrigens ganze Arbeit dabei geleistet hat, die verbliebene Dienerschaft und die gebrochenen Soldaten zu unterwandern." Daher ist es also nicht aufgefallen, dass Linus gar kein Wachsoldat ist - weil die anderen meinem Vater unterstehen.
"Ich weiß nicht, was der König von Luna dem kleinen Rinderhirten versprochen hat, aber es war offenbar so verlockend, dass er entgegen des Plans den tiefen, weiten Weg durch den Wald eingeschlagen hat, statt dich, wie es abgesprochen war, zu unserem Versteck zu bringen. Seitdem bin ich euch auf den Fersen und habe auf den richtigen Moment gewartet. Ich wollte wissen, wohin er dich denn bringen will." Ein breites, zuckersüßes Lächeln in Linus Richtung.
"Er wollte mit dir durch diesen Wald, weil dahinter der Hafen wartet. Vermutlich wäre er mit dir in der tiefsten Nacht auf ein Schiff gestiegen, hätte dich in dein Heimatland verschifft und an deinen Vater verkauft. Manchmal treibt die Armut Menschen dazu", seufzt Lucien dramatisch - einfach nur, um Linus aus der Reserve zu locken.
Was anscheinend klappt. "Ich hätte dich nicht verkauft", spuckt Linus das Wort förmlich aus. Aber er leugnet auch nicht Luciens Worte. Also ist es wahr. "Dir wäre nichts geschehen - das besagt der Handel."
"Was besagt dieser Handel denn?", stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Handel. Als wäre ich ein Stück Ware, mit dem man auf dem Markt prahlen kann!
Linus presst die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß werden und schüttelt den Kopf. Noch immer ist sein Blick einzig und allein auf mich gerichtet, seine vollkommene Aufmerksamkeit liegt auf mir. "Das brauchst du nicht zu wissen", brummt er.
"Was. Besagt. Dieser. Handel?" wiederhole ich gefährlich leise. Der Sturm braust in meinen Ohren - meine Macht ist wieder da, wartet nur darauf, dass ich ihr den Befehl gebe, anzugreifen. Auch, wenn sie weitaus schwächer ausfallen würde, wegen dem verfluchten Halsreif.
Linus starrt mich noch immer an, als er schließlich antwortet. "Wir hätten geheiratet und du müsstest nie wieder fürchten, verfolgt oder verletzt zu werden", erklärt er mit sanfter Stimme.
Die Dreistigkeit, die Besitzergreifung, die schiere Selbstüberzeugung, während er diesen Satz sagt - sie geben mir den Rest. Ich fühle mich verraten und hintergangen.
Langsam schüttele ich den Kopf. Linus streckt noch immer seine Hand in meine Richtung.
Lucien beobachtet stumm, wie ich auf den Verräter zugehe. Direkt vor ihm bleibe ich stehen und so etwas wie Triumph leuchtet in Linus Augen. Er will nach mir greifen, aber ich schlage seine Hand weg. Kurz darauf verpasse ich ihm eine schallende Ohrfeige, sodass sein Kopf zur Seite geschleudert wird. "Ich will dich nie wieder sehen", zische ich gefährlich leise, wende mich ab und stapfe auf Lucien zu.
Lucien hat mich auch verraten. Er hat mir eine Lapislazuli-Kette um den Arm geschlungen, als ich explodiert bin - und zur Folge dessen bin ich gefoltert worden.
Aber der Verrat von Linus... Dieser Verrat geht viel tiefer.
Und alleine schaffe ich es niemals aus diesem Wald heraus. Wo ich auch hingehe, man wird mich auf die ein oder andere Weise einsperren. Ich will zumindest selbst wählen, in welches Gefängnis ich mich begebe.
Linus würde mich nach Luna bringen, würde mich an sich binden und ich wäre als seine Frau gezwungen, den Haushalt zu schmeißen. Ich wäre in ein Haus eingesperrt.
Luciens Vater würde mich in sein Schloss sperren und ewig foltern, bis es mich schließlich umbringt.
Und Lucien...
Lucien...
Lucien hat von einem Widerstand gesprochen. Auch das wäre eine Kette, eine Fessel. Aber es wäre eine Einschränkung, die ich akzeptieren könnte. Ich könnte das Richtige tun. Ich könnte endlich diese gottverdammte Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen, diese verklärte Ansicht, diese Verhöhnung des weiblichen Geschlechts.
Ich hasse die Politik, das ist wahr.
Aber für die Kinder, die gelitten haben, für die Frauen, die misshandelt werden, für die Feindschaft, die man Elementgeborenen entgegenbringt für etwas, für das sie nichts können...
Für sie würde ich es tun.
Ich gebe Lucien ein Zeichen, und er legt sanft seine Hände um den Halsreif. Ich spüre, dass er ihn an einer bestimmten Stelle leicht erhitzt - immer darauf bedacht, mich nicht zu verletzen -, und ihn anschließend mit einem gezielten Ruck entfernt und wegschleudert. Es hat nicht wehgetan - und dadurch, dass er genau gezielt hat, und genug Hitze verwendet hat, bestand auch keine Lebensgefahr für mich. Ich genieße das Gefühl, als ich endlich wieder vollends frei bin - und genau in dem Moment, in dem ich meine Macht endlich wieder vollends wahrnehme, lasse ich ihr bis zu einem gewissen Grad freien Lauf und ergreife Luciens Hand. Mit einem letzten Blick über die Schulter, in Linus Richtung, verabschiede ich mich stumm von ihm.
Eine Krone aus Eis erscheint über meinem Kopf, ein Schild aus purer Kälte schlingt sich um meinen Körper, schmiegt sich an die Wärme, die Lucien um sich geschlungen hat. Auch über seinem Kopf schwebt eine Krone - eine aus Flammen.
Linus hinter uns ruft und schreit noch etwas, das ich über das Brausen des Sturms in meinen Ohren nicht verstehen kann.
Und mit weniger als dem Bruchteil eines Gedankens steigt eine Mauer aus Eis vom Boden empor und schneidet Lucien und mich von den Soldaten und Linus ab. Wir haben freien Bahn.
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Burning Ice
Fantasi↬Wenn Feuer und Eis einander begegnen...↫ ...Wie ein Kaninchen drängt er mich rückwärts an die Wand. Er hält meine Handgelenke über meinem Kopf fest und nagelt mich förmlich an Ort und Stelle. "Nie wieder", knurrt er. In seinen Augen leuchtet die Wu...