Achtunddreißig

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[In seinen Augen sehe ich, dass er dieselbe Erkenntnis erlangt hat. Und in seinen Augen sehe ich denselben Schock, der mich durchfährt, als lautes Fußgetrappel näherkommt und am Ende des Gangs ein Trupp Soldaten auftaucht, bis an die Zähne bewaffnet, komplett gepanzert. Und hinter ihnen, weit hinter ihren Reihen, in Sicherheit, steht der König, eine Hand auf seinen runden Bauch gelegt, und grinst mich grimmig an. "Willst du die Feier etwa vorzeitig beenden, Snow?", gurrt er.]

Ich balle die Hände zu Fäusten, versuche, die Schockstarre abzulegen. Der Junge neben mir denkt nicht groß nach. Er zieht sein Schwert und führt einen Hieb nach dem anderen gegen die Kette, die mich noch festhält. Die Soldaten rücken vor, aber ich hebe die Hand und sie bleiben wie erstarrt stehen.

"Keinen Schritt näher, oder ich verwandle euch alle in Eisblöcke", schnurre ich mit gebrochener, rauer Stimme. Es ist, als würde ich bei jedem Laut Glassplitter inhalieren. "Eure Angehörigen können euch ja dann vor einem der Kamine oben auftauen - wobei ich denke, dass gewisse empfindliche Teile den Frost nicht überstehen werden", schiebe ich hinterher und werfe betont einen Blick zwischen die Beine eines Soldaten. Sie alle verkrampfen und bleiben stehen, wagen es nicht, mir näher zu kommen.

Es ist eine leere Drohung von mir. Ich kann kein Eis herbeirufen - nicht, solange dieses Halsband meine Macht unterdrückt. Und selbst danach ist fragwürdig, ob ich mich schnell genug so sehr erholen kann, mit Eis um mich zu werfen.

Der König tobt und bellt und droht und faucht, aber ich höre ihm nicht zu. Ich halte den Blick der Soldaten fest und ziehe spöttisch eine Augenbraue nach oben. Wem glauben sie mehr - dem König, der gewissenlos seine eigenen Leute verrät, oder der Prinzessin, die monatelang seine Gefangene war, und sich dennoch nicht hat zerbrechen lassen?

Sie scheinen die stumme Frage in meinen Augen abgelesen zu haben, und werfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Die ganze, eigenartige Szenerie wird begleitet von dem Klirren der Kette, auf die der Junge noch immer eindrescht. Im selben Moment, in dem einige der Soldaten zögerlich vorstürmen, gibt sie mit einem Knall nach. Einen einzigen schnellen Blick kann ich auf das Schwert werfen, das nun zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Die Klinge ist an einigen Stellen zerbrochen, und nur noch so scharf wie ein Zahnstocher.

Keine Sekunde später hat der Junge mich am Arm gepackt und zerrt mich hinter sich her durch den Gang, fort von der Zelle und dem König. Mir laufen Tränen über die Wangen. Frei - ich bin frei. Zumindest vorerst.

Meine nackten, wunden Füße fliegen über den glühend heißen Steinboden und mehr als einmal stolpere ich, weil ich mich noch nicht daran gewöhnt habe, mich wieder zu bewegen. Jeder Schritt ist eine Qual, und jedes Mal, wenn meine Fußsohle auf den Boden trifft, ist es, als würde ein Blitz durch mich hindurchfahren. Jedes Mal, wenn ich hinzufallen drohe, reißt mich der Junge wieder hoch, bevor es so weit kommen kann. Er wirft keinen einzigen Blick zurück.

Als der Gang nach rechts und links abzweigt, stürmt uns eine weitere Gruppe Wachen von links entgegen. Aber da, vor ihnen, steht eine Frau mit gebeugtem Rücken und schwingt einen Besen. "Was fällt euch ein!", zetert sie, als die Soldaten mit ihren schmutzigen Füßen über den gefegten, sauberen Boden fliegen.

Ich kenne ihre Stimme. Wieder schluchze ich. Sie hat ihre Haare grau gefärbt und zu einem strengen Knoten hochgebunden, sie trägt enganliegende Putzhandschuhe, die ihre faltenfreien, jungen Hände verbergen und ihre Stimme schraubt sie absichtlich schrill hoch, damit man sie nicht erkennt. Die Soldaten wollen keine Rücksicht nehmen und versuchen in ihrem Tempo weiterhin laut polternd die Verfolgung aufzunehmen.

Cheri schwingt ihren Besen wie ein Rapier und zieht ihnen den Boden förmlich unter den Füßen fort, dann lässt sie den Stock noch einige Male auf die Schädel der Soldaten herunterkrachen. "Das euch Jungspunden das eine Lehre ist!", kreischt sie dramatisch und ich meine förmlich zu hören, wie sie kichert: "Wenn ich schon die Rolle einer schrulligen, alten Putzfrau spiele, dann aber auch richtig!"

Sie zwinkert mir zu, als der Junge - jetzt fällt mir auch endlich wieder sein Name ein - mit mir im Schlepptau vorbeistürmt. Ich hoffe nur, Cheri kennt einen Fluchtweg und lässt sich nicht erwischen.

Den Rest des Weges hinaus werden wir andauernd von Soldaten aus den verschiedensten Richtungen überrascht, aber wir schaffen es immer, ihnen zu entwischen.

Als wir endlich, endlich draußen sind, strömt zum ersten Mal wieder frische, saubere Luft in meine Lungen, und alle Erschöpfung fällt mit einem Mal von mir ab. Es fällt mir nicht länger schwer, Luft zu holen. Es fällt mir nicht länger schwer, mit Linus Schritt zu halten. Ich fühle mich, als könnte ich frei und wild davonfliegen, so befreit bin ich. Frei - von jeglichen Fesseln gelöst. Naja, bis auf das Halsband.

Während ich mit Linus in den angrenzenden Wald fliehe, die polternden Soldaten hinter uns, klopfe und taste ich den Halsreif nach einem Verschluss ab. Wenige Zentimeter fliegt ein Pfeil an uns vorbei und bohrt sich in den Stamm des ersten Baumes des Waldes. Im nächsten Moment stößt mich Linus von sich. "Lauf im Zickzack!", brüllt er mir zu.

Ich gehorche, halte dabei aber nicht inne mit meiner Untersuchung. Voller Verzweiflung kralle ich die Fingernägel in das Gestein, kratze und reiße daran, aber er löst sich einfach nicht. Um uns herum ist die Luft währenddessen erfüllt von dem Sirren der Pfeile, die man auf uns schießt.

Ich werfe nur einen einzigen Blick nach hinten - genau in dem Moment, in dem der König nach einer Armbrust greift. Mit großen Augen sehe ich zu, wie er sie spannt, anlegt, schießt - und mich um gut zwei Meter verfehlt. Ich muss automatisch grinsen und mein Gesicht tut bei der Bewegung weh. Der König flucht, donnert die Armbrust auf den Boden, springt darauf herum wie ein kleines Kind.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt