Dreißig

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Ich werde singen - ich singe. Ich singe und singe, bis meine Stimme heiser ist und bricht. Bis die Sonne untergegangen ist und der Mond sich erhebt. Luna - der Mond. Die Nacht ist mein Freund.

Das Treffen mit dem Rinderhirten - Linus, hat er gesagt - läuft genauso wie alle anderen davor. Genauso, und doch anders. Wir sitzen nebeneinander auf dem Baumstumpf und verspeisen den gebratenen Fisch, während wir in die Flammen und in den Sternenhimmel starren.

"Willst du erzählen, was dich bedrückt?", fragt er schließlich.

Ich schüttele stumm den Kopf und er lässt das Thema fallen. Ich kann ihm nicht den Grund erzählen, warum ich vollkommen verweint und verdreckt bin - und doch mehr strahle als je zuvor. Nicht, ohne meine Identität zu enthüllen. Und genau das will ich nicht. Ich fürchte mich vor seiner Reaktion, wenn er erfährt, wer ich bin. Die Sache mit Freedom ist schon unfassbar schief gelaufen. Ich will erst gar nicht wissen, wie es mit Linus ausgehen würde.

Heute bleibe ich länger. Es zieht mich nicht zum Schloss - wer erwartet mich dort schon, abgesehen von einem Haufen blutrünstiger Adeliger und mitleidiger Diener. Ich bleibe, bis Linus im Sitzen einschläft und sein Kopf auf seine Brust niederfällt. Dann lege ich ihn vorsichtig hin, damit er es gemütlicher hat, und lasse ihm meinen Umhang als Decke zurück. Die Nächte werden immer frischer und bei seiner Armut wird er wohl kaum einen Schutz gegen die Kälte haben.

Dann gehe ich zurück, zurück zu diesem Käfig. Aber ich trödele. Betrachte Bäume, Eulen, Wurzeln. Mit einem Seufzen erhebe ich mich, gerade als ich anfangen wollte, die Steine auf dem Kiesweg zu zählen. Es ist tiefste Nacht - alle werden wohl schon schlafen.

Trotzdem bin ich vorsichtig. Ich will niemandem über den Weg laufen. Will kein Gespräch führen müssen. Nicht weit von meinem Fenster entfernt bleibe ich stehen. Fluche lautlos. Husche hinter eine Hecke.

Ein Dutzend wachen stehen direkt darunter, ihre Gesichter grimmig. Es sind andere Wachen als sonst. Nicht die netten, weichherzigen Wachen wie sonst, sondern die hart durchgreifenden, unsympathischen, die ich stets gemieden habe. Sie werden wohl kaum ohne Grund dort stehen und ihre Umgebung beobachten. Als würden sie warten. Als würden sie lauern.

Ich schlucke weitere Flüche hinunter und husche stattdessen lautlos zurück zum Kiesweg. Den Haupteingang kann ich wohl kaum nehmen. Aber es gibt eine Hintertür, die in die Küche führt...

Ungesehen und versteckt in den Schatten komme ich atemlos davor an. Die sorglosen Monate fordern ihren Tribut - mein Körper ist die viele Bewegung nicht gewohnt. Mit dir, Ice, habe ich damals jede Nacht trainiert, mich aus dem Schloss geschlichen oder bin in die Häuser mehrköpfiger Familien eingedrungen, um ihnen eine Handvoll Goldmünzen dazulassen. Zuhause, Ice, gab es das Gerücht eines gutherzigen Phantoms, das den Armen beisteht. Aber das ist nun wohl Vergangenheit.

Ich kann keine Wachen entdecken. Mit angehaltenem Atem drücke ich die Hintertür einen Spalt breit auf und schlüpfe hinein. Es ist stockdunkel - kein Mensch in der Nähe. Absolute Stille begrüßt mich. Erleichtert atme ich aus und stibitze mir den ein oder anderen Snack. Ich habe sowohl das Mittag- als auch das Abendessen verpasst und der Hunger nagt an mir, trotz des Fisches, den mir Linus abgegeben hat.

Dann schleiche ich weiter durch die Flure, verstecke mich bei nahenden Schritten in dunklen Vorratskammern oder Abstellräumen. Durch die vielen Gespräche mit den Bediensteten weiß ich genau, welche Tür wohin führt. Nur noch drei Gänge, dann wäre ich bei meinem Zimmer. Aber was würde mich dort erwarten - Leere oder noch mehr Wachen, die mich einschließen und den Schlüssel wegwerfen würden, zumindest, bis der König mich rufen lässt? Kopfschüttelnd beschließe ich, dass ich das spontan entscheiden werde. Erst einmal müsste ich so weit kommen.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt