Vierunddreißig

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In den nächsten Monaten verkümmere ich innerlich immer mehr zu einer hohlen Marionette.

Als ich am ersten Abend in mein Zimmer zurückgebracht wurde - an diesem verdammten Halsband hat man mich wie einen Hund dorthin geschleift und die Stunden der Reglosigkeit haben meinen Körper derart geschwächt, dass ich eher über den Boden gezogen wurde, als dass ich tatsächlich gegangen bin - habe ich innerlich noch gekocht vor Wut, habe mir immer und immer wieder ausgemalt, wie ich den König bezahlen lassen würde, dafür, dass er sich das Recht einfach so nahm, Menschen nach freiem Belieben Schaden zuzufügen.

Bevor die Sonne am nächsten Tag aufgegangen war, hat man mich wieder in diese Kammer bringen wollen, aber ich habe mich nach Leibeskräften gewehrt, habe geschrien, gefaucht, gekratzt, getreten und sogar gebissen. Ohne Erfolg. Das Einzige, das ich damit erreicht habe, war, dass man mir mit einem Schwertknauf eins übergebraten hat, sodass ich das Bewusstsein verlor.

Weit nach Sonnenuntergang brachte man mich in mein Zimmer zurück, vor Sonnenaufgang schleppte man mich wieder in die Folterkammer. Die Stunden dazwischen waren gewürzt mit Folter, Tränen, Hass und Schreien. Meistens war nicht ich es, die ernsthafte, körperliche Wunden davontrug - dafür fand man immer wieder andere Personen. Zuerst war es mehrfach Cheris Tochter, bis diese derart mager und schwach geworden war, dass sie mehr tot als lebendig war. Dann schleppte man Andere herbei - allesamt mir unbekannte Kinder, die in den Momenten der puren Verzweiflung ihre Macht nutzten, trotz der Lapislazuli-Ketten.

Zu unregelmäßigen Zeiten flößte man mir auch eine Art Brühe ein, während ich noch immer in den Ketten hing. Auch hier war jede Art von Widerstand zwecklos.

Egal, wieviel ich auch schrie und hasste und verabscheute und weinte und mich wehrte - kein einziges Mal schaffte ich es, der Folter Einhalt zu gebieten. Weder durch mein Eis noch durch Argumente.

Nach zwei Tagen war ich heiser.

Nach vier hatte ich meine Stimme verloren und mein Hals brannte wie Feuer.

Nach zwei Wochen war ich ein Geist, unfähig, noch irgendeine Regung zu zeigen.

Nach einem Monat war ich eine wandelnde Tote.

Ich sah niemanden innerhalb dieses Monats - nicht Cheri, nicht Lucien, nicht Linus -, nur ein und dieselben Soldaten, alle gebrochen.

Wenn die Folter arg schlimm war, flüchtete ich in meine Gedanken. Die Schuldgefühle Cheri gegenüber fraßen mich immer mehr auf, verschlangen mich förmlich. Manchmal führte ich im Geiste stumme Gespräche mit ihr - immer ging es darum, wie ich mich entschuldigen würde, wenn ich sie das nächste Mal sah. Wie ich im Staub kriechen würde. Wenn sie mich als Rache für ihre Tochter verprügeln oder töten wollte, wäre es mir auch Recht - auch, wenn es niemals genug wäre, um für mein indirektes Mitwirken an dem Leiden ihrer Tochter zu bezahlen.

Auch an Lucien dachte ich - dann und wann. Ich sah sein Gesicht vor mir, rekapitulierte den Moment, als er mir diese Kette um das Handgelenk geschlungen hatte. Es tut mir leid, hatte er gesagt, hatte es geflüstert. Worte, so nutzlos, so klein, so unbedeutend. Ich wünschte, ich könnte ihn hassen. Ich wünschte, ich könnte mir ausmalen, wie ich ihn für diese Tat umbringen würde. Aber ich konnte es nicht. Nicht bei ihm. Diese wenigen Momente, in denen er mein Herz zum Flattern gebracht hatte, als er meine Haut zum Kribbeln gebracht hatte... da hatte sich etwas in mir verändert.

An Linus zu denken zerriss mir beinahe das Herz. Ob er sich fragt, wo ich bleibe? Ob er sich um mich Sorgen macht? Ob es ihm egal war? Ob er meine Abwesenheit überhaupt bemerkt hat? Nein, ihm ist sicherlich aufgefallen, dass ich ihm abends keine Gesellschaft mehr leiste. Ob er mich sucht? Ob er von meiner wahren Identität weiß - ob er es ahnt?

Die Fragen setzten mir mindestens genauso zu wie die Schuldgefühle.

Irgendwann hörte ich auf, mich zu wehren. Ich hörte auf zu versuchen, die Aufgabe, die alles beenden konnte, zu erfüllen.

Irgendwann war in meinem Kopf nur noch Stille.

Irgendwann fühlte ich nichts mehr - nichts, bis auf absolute Leere.

Irgendwann vergaß ich ihre Gesichter - die Menschen, die mir etwas bedeutet hatten. Die Menschen, denen ich etwas hatte sagen wollen. Ich vergaß immer und immer mehr.

Irgendwann wusste ich gar nichts mehr, nicht einmal meinen Namen oder wer ich einmal gewesen war. Was ich gewollt hatte. Wie ich hier her gelangt war.

Irgendwann ertrug ich die Folter nur noch stumm, nahm sie an, ließ mich treiben.

Irgendwann war sie alles, an das ich mich erinnern konnte.

Irgendwann gab ich auf.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt