Anfangs schweigen wir - Lucien und ich - einander an. Wir müssen uns schnell bewegen - schnell und leise.
Denn jetzt suchen zwei Parteien nach uns. Drei, wenn man Ice dazurechnet - wobei ich nicht weiß, ob du auch nach mir suchst, Bruder.
Aber es dauert nicht lange, bis Lucien das Schweigen bricht. "Wir haben jetzt einen ganz guten Vorsprung - dank deiner Mauer." Er wirft mir ein stolzes Lächeln zu.
Das ist etwas, das ich nicht von Lucien gewohnt bin. Lob. Anerkennung. Zwischen uns hat es immer nur Spott und Hohn, Neckerei und... noch etwas anderes gegeben. Aber nie etwas derart positives. Daher versuche ich, die Wärme in meiner Brust zu ignorieren, die mich bei diesem Lächeln durchfährt.
"Wie weit müssen wir in etwa gehen?", wechsle ich schnell das Thema.
Lucien, der mich voll und ganz zu durchschauen scheint, grinst breit und knufft mich in die Seite. "Ist es so peinlich, wenn ich dir ein Kompliment mache, Flöckchen?"
"Woher wusstest du, wie man den Halsreif abnimmt?", starte ich einen zweiten Versuch, ihm auszuweichen.
Noch immer grinst er mich wissend an, aber sein gelöster Ausdruck gerät ein wenig ins Wanken. "Ich habe auch einen erhalten - und es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, wie man das verfluchte Ding loswird." Seine Augen leuchten wieder auf. "Du weichst mir aus."
Ich weiß, es ist gemein und ungerecht, aber trotzdem sage ich die nächsten Worte. Das, was noch zwischen uns steht, muss besprochen werden, wenn ich längere Zeit mit ihm unterwegs sein muss. "Du hast mich verraten, betrogen und an deinen sadistischen Vater verkauft", erwidere ich kühl, als wäre das eine Antwort.
Bei einem Seitenblick zu Lucien sehe ich, wie Schatten sich in seine Augen schleichen. "Ich weiß. Mein Verhalten war ein Fehler - einen, den ich mir selbst zuzuschreiben habe. Egal, was ich sage, es wird nicht als Entschuldigung reichen, für das, was du durchmachen musstest."
Dass er das Problem einsieht... Dass er nicht versucht sich herauszureden... "Wieso hast du es dann getan?", frage ich und diesmal ist meine Stimme sanfter.
Er atmet tief durch, fährt sich mit den Händen über das Gesicht. Als er sie wieder sinken lässt sehe ich Scham und Bedauern in seinen Augen. "Ich war eifersüchtig. Eifersüchtig auf Linus, weil du bei ihm Trost gesucht hast, statt zu mir zu kommen. Deshalb habe ich an jenem Tag in deinem Zimmer auf dich gewartet. Und ich hatte Angst...", er stockt.
Dann schüttelt er den Kopf und seine Stimme nimmt einen bitteren Tonfall an. "Ich hatte an diesem Tag Angst, dass du mit ihm durchbrennen würdest, dass du mit ihm davonlaufen würdest und dass ich dich nie wiedersehen würde. Und als du ihn dann gedeckt hast, als du dich geweigert hast, ihm in den Rücken zu fallen...", Lucien lacht bitter auf, "Da habe ich die Geduld verloren."
Ich höre ihm stumm zu, während wir nebeneinander durch den Wald gehen. Was er da angedeutet hat - darüber muss ich in einem stillen Moment nachdenken. In einem Moment, in dem ich nicht von dem Gefühlskarussel in meinem Inneren überwältigt werde.
"Snow, als du diesen Schneesturm entfesselt hast", fährt er fort, "Da war ich geradezu überwältigt vor Ehrfurcht. Ich hatte Angst, du würdest das gesamte Schloss in blutige Trümmer verwandeln. Ich hatte Angst, du würdest dich selbst unbeabsichtigt in diesen Trümmern begraben. Und währenddessen habe ich dich bewundert für diese Kontrolle, für diese Macht. Daher habe ich zu dieser Kette gegriffen - um dich zu schützen."
Woher er diese hatte war eine Frage, die ein andermal beantwortet werden sollte. "Du hattest keine Angst, dass ich dich verletzen würde?", frage ich argwöhnisch nach. In so einer Situation wäre das wohl meine größte Sorge gewesen, wenn ich an seiner Stelle gestanden hätte.
Lucien bleibt stehen und hält mich am Arm fest, damit ich es ihm gleich tue. Fragend drehe ich mich zu ihm um. Er blickt mich offen und klar an, als er antwortet: "Nein. Ich habe keine Angst vor dir, Snow. Ich werde niemals Angst vor dir haben."
Auch diese Worte wärmen mich von innen. Unwillkürlich denke ich an meine Vergangenheit, betrachte das Geschehene objektiv.
Vater hat mich immer mit Feuer gefoltert, solange, bis ich panische Angst davor bekommen habe. Bis ich mich auch nur bei dem kleinsten Funken eingenässt habe.
Lucien gebietet über die Flammen. Und trotzdem habe ich nie Angst vor ihm gehabt, habe mich nie vor ihm gefürchtet. In dem Moment, in dem er in mein Leben getreten ist, habe ich diese Angst verloren.
Dankbar neige ich den Kopf. "Ich habe auch keine Angst vor dir Lucien - niemals."
So schnell, wie der schöne, intime Moment gekommen ist, ist er auch wieder vorbei. Sein arrogantes Grinsen kehrt zurück, das sich mit etwas anderem vermischt, während er den Blick über meinen Körper schweifen lässt. Ich trage immer noch das seidene Gewand. Ich renne immer noch halbnackt herum.
"Bist du dir da sicher, Flöckchen?", schnurrt er, "Du hast nur Spinnweben am Leib, während wir alleine durch den dichten, großen Wald gehen, wo uns niemand hören kann. Und wir sind beide keine unbestückten Kinder." Er hebt immer noch anzüglich grinsend die Augenbrauen.
"Du kannst es gerne versuchen, Flämmchen", schnurre ich zuckersüß und stemme eine Hand in die Hüfte, "Aber ich warne dich. Ich habe den ein oder anderen neuen Trick gelernt - wenn du unbedingt meine Krallen spüren willst, fühl dich frei, es jederzeit zu versuchen."
Damit stolziere ich mit schwingenden Hüften weiter und gebe mir Mühe, mein rasendes Herz zu beruhigen. Es dauert eine ganze Weile, bis Lucien zu mir aufschließt.
Bei Einbruch der Nacht sitzen wir uns gegenüber auf dem Waldboden. Es hat ganz schöne Vorteile, als Elementgeborene zu reisen, fällt mir schnell auf.
Lucien lässt aus dem Nichts ein Feuer zwischen uns erscheinen, das keinen Rauch verströmt, weil es von alleine brennt und ich fülle mit meinem Eis meine Wasserflasche auf, die Lucien und ich uns teilen, da er keine eigene mitgenommen hat. Es dauert nicht lange, bis das Eis an dem Feuer geschmolzen ist und wir flüssiges Wasser haben.
Als Lucien mir dann offenbart, dass wir auf dem Boden schlafen werden, frage ich nach, ob es denn gar keine wilden Tiere gibt, wegen derer wir uns Sorgen machen müssten. Luciens Antwort darauf ist nur ein breites Grinsen. "Ich bin mir sicher, deine Krallen werden die Tierchen verscheuchen, sollten sie sich an uns heranwagen", neckt er mich.
Schnaubend verschränke ich die Arme vor der Brust. Als Abendessen dienten uns einige Beeren, die wir unterwegs gefunden haben und die Lucien für ungiftig befand. Eben diese Beeren haben wir schon restlos aufgegessen.
"Wie weit müssen wir in etwa gehen?", wiederhole ich meine Frage vom Vormittag.
Kurz überlegt Lucien. "Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, sind wir ungefähr in zwei Tagen da."
"Und wohin genau gehen wir?"
Die Flammen des Feuers spiegeln sich in seinen Augen wider, als er mich angrinst. "Zum Stützpunkt des Widerstands. Da sind zwei Frauen, die mir ordentlich in den Hintern getreten haben, damit ich dich schnellstmöglich zu ihnen bringe."
Stirnrunzelnd lege ich den Kopf schief. "Zwei?"
"Du wirst sie früh genug sehen", antwortet er auf meine indirekte Frage, während ein sanftes, liebevolles Lächeln seine Lippen umspielt.
Um nicht zu lange auf diese sinnlichen Lippen zu starren, schließe einfach die Augen.
"Gute Nacht, Flöckchen", flüstert Lucien nach einer Weile leise.

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Burning Ice
Fantasy↬Wenn Feuer und Eis einander begegnen...↫ ...Wie ein Kaninchen drängt er mich rückwärts an die Wand. Er hält meine Handgelenke über meinem Kopf fest und nagelt mich förmlich an Ort und Stelle. "Nie wieder", knurrt er. In seinen Augen leuchtet die Wu...