Neunundvierzig

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Meine Füße fliegen förmlich über den Boden. Auf meinem Weg durch den Wald ziehe ich eine ganze Frostspur hinter mir her.

Es ist mir egal, ob sie gesehen wird. Es ist mir egal, ob man mir auf den Fersen ist. Es ist mir egal, was Lucien jetzt tut, wie er sich entscheidet. Was die Soldaten jetzt tun.

Die Wolken und der Hagel sind verschwunden, ja. Aber der Wind umtost mich noch immer, gibt mir Halt und Gleichgewicht. Der Wind ist es, der dafür sorgt, dass ich über den Boden fliegen kann, schneller als je zuvor.

Und der Frost, der mich nicht losgelassen hat, der mit eiserner Hand mein Herz zerquetscht, der schmerzhaft auf meiner Haut brennt, während eine innere Flamme, ein Inferno tief in mir, mich versengt. Der Wind brüllt in meinen Ohren, der Sturm tost in jedem Laut.

Das Eis umrankt mich, umgibt mich, umhüllt mich, wie eine zweite Haut. Aber im Gegensatz zu sonst fühle ich mich nicht geschützt und geborgen. Nein, es tut weh. Es tut unfassbar weh.

Ich renne im Morgengrauen, ich renne am Tag, ich renne am Abend, ich renne in der Nacht.

Meine Füße sind längst taub und geschwollen, als ich schlitternd vor dem Schloss stehen bleibe. Ich habe es geschafft. Ich habe es rechtzeitig her geschafft. Nun muss ich nur noch Ice retten.

Die Erleichterung bricht in einer Kaskade aus Eis aus mir heraus, die die Schlossmauer umflutet, die alles gefriert und mit Eis überzieht auf meinem Weg.

Aber etwas stimmt nicht. Es ist still. Zu still. Ich halte mich nicht lange mit dem Gedanken auf. Geradewegs stürme ich in den Schlossgarten, hinter dem die Eingangstüren liegen.

Um keuchend davor stehen zu bleiben, während die Welt unter meinen Füßen langsam wegbricht.

Rot. Alles ist rot.

An Galgen, befestigt an den Bäumen baumeln Leichen. Nur Männer. Männer in schneeweißen Umhängen. Männer, die ich kenne - vom Hörensagen. Vom Aussehen. Es sind Ice Männer. Die Soldaten, die Ice beste Freunde, seine wahren Kameraden waren.

Über die Wiesen verstreut liegen Innereien und tote, leblose, zerfetzte Körper. Größtenteils Frauen und Kinder. Hier hat ein Sturm getobt. Ein ähnlicher Sturm wie der, den ich entfesselt habe - nur hat dieser sein Ziel getroffen.

Eine laute Stimme ertönt in weiter Ferne. Ich kenne die Stimme. Ich kenne die Worte, die diese Stimme singt. Mein Herz stolpert. Die Stimme ist zu laut, als dass sie einfach nur singt. Es ist viel mehr ein Singen, das ein Schreien unterdrücken soll. Das Lied vom Anfang.

Ich sprinte los, weg vom Schloss, dieser Stimme entgegen. Ein Hügel, nicht allzu weit weg. Ich sehe, wie sie das Holz aufschichten. Ich sehe, wie die Männer vor dem großen, in den Boden gerammten Holzbalken stehen. Ich renne darauf zu.

Im Rennen beobachte ich die Szene, der ich immer näher komme. Stöcke werden aneinander gerieben, um einen Funken zu entfachen. Den entscheidenden Funken.

Ich gebiete dem Wind, vorauszuwehen, zu verhindern, dass dieser Funke zustande kommt. Ich gebiete dem Sturm, sich zu bündeln, sich bereit zu halten. Ich gebiete den Wolken, sich über dem Hügel zu sammeln. Ich gebiete dem Frost, den Hügel mit Eis zu bedecken.

Ich renne immer noch, als die Elemente eintreffen und die Stöcke aus den Händen des Mannes von einer Windbö gefegt werden. Ich beiße die Zähne zusammen, schluchze leise.

Man wendet sich in meine Richtung. Man sieht mich auf den Ort zustürmen. Du singst noch immer Mutters Lied, aber auch du hast meine nähernde Präsens gespürt. Deine Stimme wird lauter, schraubt sich langsam zum Finale hinauf.

Ich schicke eine Windbö nach der anderen aus. Ein Schild wird aufgebaut. Meine Elemente prallen mit lautem Krachen dagegen und ich spüre den Aufprall in meinem ganzen Körper. Ich bin so überrascht, dass ich stolpere und hinfalle, aber ich springe sofort wieder auf und renne weiter.

Flammen schießen auf mich zu. Nicht Luciens Flammen - die Flammen seines Vaters. Im Zickzack rennend weiche ich den Feuerstößen aus, fliege auf meinen Zwilling zu.

Ich sehe, wie der verheerende Funke aufspringt. Man hat die Zeit genutzt, um ihn zu erschaffen. Er frisst sich rasend schnell durch das trockene, aufgeschichtete Holz, nähert sich dir rasend schnell.

Ein lauter Schrei löst sich aus meiner Kehle, als ich am Fuße des Hügels ankomme, als ich ihn hinaufstürme. Soldaten rennen mir mit gezückten Klingen entgegen, aber ich lasse sie im Rennen einfach zu Eisskulpturen gefrieren. Ich schicke alles, was ich aufbieten kann, gegen dieses Feuer, das deinen Körper zu verschlingen droht, aber es ist nicht genug. Es ist nicht genug.

Tränen rennen mir ungehindert über die Wangen und ich blinzle sie hektisch weg, damit ich dich noch sehen kann. Es ist nicht genug.

Weitere Soldaten, wollen auf mich zustürmen, werden jedoch vom König zurückgehalten. Er schickt mir Flammenwalzen entgegen, die mich aufhalten. Ich verschwende wertvolle Sekunden damit, einen Schild um mich zu schlingen.

Sekunden, die der König ausnutzt. Seine Flammen treiben die Flammen des normalen Feuers zur Eile an, fressen sich durch deine zerschlissene Kleidung, fressen sich durch deine geschundene, verletzte Haut, verbrennen und versengen sie. Ein widerlicher Gestank steigt auf.

Ein lauter Schrei löst sich aus meiner Kehle. Wieder und wieder und wieder rufe ich deinen Namen. Du schließt die Augen, deine Stimme schraubt sich in die Höhe. Du singst die letzten Worte und ein Damm in mir bricht.

Als die Flammen auch dein Gesicht verzehren und kein Laut mehr von dir dringt, zerbreche ich unwiderruflich. Alle Grenzen werden gesprengt. Ich spüre, wie deine Seele an mir vorbei fliegt. Ich spüre, wie dein Eis sich um meine Macht schlingt, sich damit vereint, bis dein Eis und mein Eis eins sind, bis ich die Macht von uns beiden besitze.

Ich verfalle in eine Art Laufschritt und werde immer langsamer. Vor deinem Scheiterhaufen bleibe ich schwer keuchend stehen, meine Beine knicken unter mir weg.

Hinter mir höre ich Schritte. Ein Aufkeuchen. Lucien. Ein Pferd wiehert laut, Hufgetrappel entfernt sich. Lucien ist hergeritten.

Alles bricht unter meinen Füßen weg. Und in mir... Da ist eine alles zerfressende Leere.



Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt