Neununddreißig

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Während wir durch den dichten Wald gehen, wechseln wir kein einziges Wort miteinander. Die Erschöpfung nagt an uns und das Adrenalin, das uns bei der Flucht beflügelt hat, lässt allmählich nach und zurück bleibt ein leeres, hohles Gefühl von Müdigkeit.

Mein gesamter Körper schmerzt und ich fühle mich, als wäre ich aus einem Grab auferstanden. Trotzdem ist mein Geist so klar wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr, und ich merke, wie ich immer mehr zu meinem alten Ich zurückkehre.

Kurz bevor es dunkel wird, bleibt Linus schließlich stehen, lehnt sich an einen Baum und dreht sich zu mir um. In seinen Augen glimmt Sorge, als er den Blick über mich schweifen lässt und unwillkürlich verspüre ich den Drang, mich zu verstecken.

Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, balle ich die Hände zu Fäusten. Der Schmerz, als meine zu langen Fingernägel in meine Handflächen stechen, ist eine willkommene Erinnerung:

Ich lebe noch, ich habe überlebt, ich bin stark. Es gibt nichts, rein gar nichts, für das ich mich schämen müsste.

Getrieben von dieser stillen Wut deute ich mit dem Kinn auf den Boden. "Schlagen wir hier unser Nachtlager auf?" Noch immer ist meine Stimme angeschlagen - vielleicht wird sie es für immer sein... - und Linus zuckt kaum merklich zusammen. Aber er schweigt und sieht mich mit diesem mitleidigen Blick an.

Ich beiße die Zähne zusammen und mache eine unbestimmte Geste Richtung Himmel. "Wir sollten uns um Nahrung kümmern, solange die Sonne noch nicht ganz versunken ist", stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Endlich, endlich wendet er den Blick an und kramt in seiner Seitentasche. Dann wirft er mit einen halben Laib Brot und eine gefüllte Wasserflasche zu, die ich beide auffange. "In der Nähe ist ein Fluss voller Fische", antwortet er mit rauer Stimme und geht voraus.

Tatsächlich ist da in weiter Ferne das leise Murmeln von fließendem Gewässer. Als die Sonne vollkommen verschwunden ist, sitzen wir schon am Flussufer und essen beide je einen gebratenen Fisch. Geredet haben wir während des Fangens nicht. Und auch davor und danach reden wir nicht.

Erst, als ich nachfrage, ob der Rauch des kleinen Feuers unsere Position nicht verrät, macht Linus wieder den Mund auf. Es sei kein Problem und ich müsse mir keine Sorge machen, waren seine knappen Worte gewesen.

Nach dem Essen gehen wir zurück zu der Stelle, auf die ich zuvor gedeutet habe. Aber wir verbringen die Nacht nicht am Waldboden, so wie ich gedacht habe, sondern wir klettern auf die Bäume um es uns in den Zweigen gemütlich zu machen. So lautet zumindest der Plan.

Aber als ich mich vor einen breiten Baum stelle und nach dem ersten Zweig greife, tritt Linus neben mich und bildet mit den Händen eine Schale, damit ich mich bei ihm abstützen kann. Betont ignoriere ich die übervorsichtige Geste und ziehe mich aus eigener Kraft nach oben. Mein Körper protestiert zwar schmerzhaft, weil ich mich so lange nicht mehr bewegt habe, aber es ist eine Art von Schmerz, die mir willkommen ist. Eine Art Schmerz, die mir wieder und wieder beweist, dass ich es herausgeschafft habe aus dieser Zelle voller Folter und Qualen. Ja, es tut weh - aber ich brauche das. Es hilft mir, zurück zur Normalität zurückzukehren.

"Mir geht es gut", weise ich Linus scharf zurecht, als er hinter mir hochklettert und sich neben mich in die Zweige setzt, als könnte ein schwacher Windstoß mich herunterwehen. Er wirft mir nur wieder einen langen Blick zu und bleibt wo er ist.

Ich schlucke meine Gereiztheit herunter und rufe mir in den Sinn, dass Linus monatelang für mich dagewesen ist, wann immer ich eine Pause von dem Schloss und dem neuen Leben gebraucht habe, und dass er mir jede Nacht etwas von seinem spärlichen Essen abgegeben hat. Dann bin ich für Monate verschwunden gewesen - und diese Tatsache lässt ihn wohl oder übel ein wenig vorsichtiger sein. Auch, wenn seine Sorge um mich unbegründet ist.

Denn meine Worte - mir geht es gut - sind keine vollkommene Lüge gewesen. Ja, ich bin müde und erschöpft und mir tut jede Faser meines Seins weh, ja, ich habe noch immer Angst, was passieren könnte, wenn man Linus und mich gemeinsam schnappt und zurück schleppt - aber ich fühle mich im Vergleich zu der Zeit in der Zelle wie neugeboren.


Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt