Vierundzwanzig

518 31 0
                                    

[Zu spät merke ich, dass er mich unauffällig bis vor die Tür bugsiert hat, während ich vollkommen durch den Wind war. Ich fühle sein Grinsen an meinem Gesicht, als er mich plötzlich ins Zimmer stößt, mir die Tür vor der Nase zuknallt und einen Schlüssel im Türschloss dreht. "Gute Nacht!", ruft er mir durch die Platte zu und obwohl er sich Mühe gibt, dass man nur das Lachen in seiner Stimme hört, fällt mir der atemlos grollende, hungrige Unterton auf.]

Ich sollte schlafen gehen. Ich weiß, dass ich schlafen gehen sollte. Man sollte immerhin meinen, ich hätte für einen Tag erst einmal genug erlebt.

Ich habe es sogar versucht, ein einziges Mal. Das ist auch der Grund, weshalb ich nun in nicht mehr als ein schneeweißes Nachtkleid gehüllt dastehe - hat es übrigens einen bestimmten Grund, warum jedes verfluchte, einfache Gewand hier weiß sein muss? -, aber kaum habe ich meine Augen geschlossen, ist mir Luciens Gesicht vor Augen erschienen und ich habe mich an das überwältigende Gefühl erinnert, als seine Lippen meine berührt haben. An das Kribbeln, an die Wärme, an das Gefühl, wie unsere gegensätzlichen Mächte sich vereint, sich umeinander geschlungen haben... Und im nächsten Moment habe ich aufrecht im Zimmer gestanden, entschlossen, mich nicht noch einmal hinzulegen.

So kommt es, dass ich nun alleine in einem Nachtkleid außerhalb des Schlosses stehe und durch einen finsteren, angrenzenden Wald spaziere. Verlaufen ist inmitten der Kälte der Nacht für mich so gut wie unmöglich - mein Gefühl für Eis kann mir auch über weite Entfernungen hinweg mitteilen, wann sich die Temperaturen ändern und ich mich einer Wärmequelle nähere.

Was meinen Ausbruch betrifft - einzig und allein die wenig feuchte Erde direkt unterhalb meines geschlossenen Fensters verrät, wie ich mich herausgestohlen habe. Bis die Sonne aufgeht, ist der Fleck schon längt getrocknet und damit jeder Hinweis vernichtet. Alles, worauf ich achten muss, ist, nicht vom Personal des Schlosses gesehen zu werden. Verlobte hin, Verlobte her - Lucien hat mir deutlich gemacht, dass er mich als eine Art Eigentum ansieht und da wird es ihn mit Sicherheit nicht erfreuen, zu wissen, dass ich mich des Nachts heimlich davonschleiche. Auch, wenn es für ihn wohl nichts Neues ist, bei der Geschichte, die er den Adeligen aufgetischt hat. Und auch sie werden eben deswegen keinen großen Wirbel darum veranstalten.

Wieder voll und ganz im Hier und Jetzt atme ich tief die kühle Nachtluft ein und genieße die Ruhe, die mich umfängt. Keine Blicke sind auf mich gerichtet, keine Erwartungen drohen mich zu erdrücken. Nur Stille und Kühle und - doch keine Stille. Das Knistern eines nicht weit entfernten Feuers. Ein ausgezehrtes Seufzen. Die Geräusche von Tieren. Jeder Teil meines Körpers spannt sich an, ruft mir zu, wegzulaufen, denn die Bewohner dieses Landes dienen einem grausamen Befehlshaber, die Bewohner dieses Landes sind meine Todfeinde...

Seufzend schüttele ich den Kopf. Nein. Nein, sie sind nicht meine Feinde. Sie sind die Feinde des Dämons in Luna, der auf dem Thron sitzt - und damit auf eine verdrehte Art und Weise meine Verbündeten. Meine Neugierde wäre ohnehin zu groß gewesen, als dass ich weggelaufen wäre, rede ich mir ein. Diese Predigten, die man mir vorgehalten hat, während ich gefoltert wurde, hätten mich nicht überzeugen können.

Entschlossen stolziere ich anmutig auf die Quelle der Wärme zu, dessen Lichtschein die Bäume der Wälder in gold, rot und orange färbt.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt