Sechsunddreißig

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Der Tag, an dem die Frau in meiner Zelle aufgetaucht ist, wird zu einer Art Messlatte für mich. Zweimal am Tag kommt der König von Sol - Luciens Vater - hinunter und versucht mir mit Geflüster, Versprechungen und Drohungen Informationen zu entlocken.

Noch immer ist meine Stimme unendlich weit weg, wodurch ich gar nicht erst in Versuchung kommen könnte, ihm etwas zu verraten - selbst, wenn er mich umgarnen würde.

Dreimal täglich erhalte ich spärliche Mahlzeiten - meist irgendeine Brühe, die mir eingeflößt wird. Hin und wieder wird es ausgelassen, wohl eine Art Strafe, die die Ungeduld des Königs symbolisiert.

Die Tage ziehen vorbei, ohne, dass ich noch etwas von der Frau höre. Mein Alltag wird wieder von Folter und Qual bestimmt. Aber nicht so wie vor dem Aufeinandertreffen - nein, jetzt spüre ich jeden Tag ein wenig mehr. Ich nehme mehr wahr.

Manchmal durchflutet mich rasende Wut und die Schweißperlen auf meinem Körper verwandeln sich für den Bruchteil einiger Sekunden  in spitze Eiszapfen. Manchmal wache ich in der Nacht auf und fühle mich, als hätte ich einen eiskalten Bach Wasser verschluckt. Die Anzeichen kommen und gehen wie sie wollen - aber sie sind da.

Tag für Tag stemme ich mich gegen das Gestein, das mich bindet. Tag für Tag sage ich ihre Namen in Gedanken auf - beim Aufwachen, bei der Folter, beim Schlafen gehen. Ihre Namen und ein und dieselben Sätze. Sie werden zu einer Art Gebet.

Mein Name ist Snow und ich bin die Prinzessin Lunas.

Mein Zwilling heißt Ice - meine andere Hälfte.

Der Prinz Sols war mein Freund - Lucien.

Manchmal meine ich dich auf dem Stuhl neben der Tür sitzen zu sehen, Ice. Manchmal meine ich zu sehen, wie du an deinen eigenen Ketten reißt und meinen Namen rufst. Manchmal meine ich deinen Geruch nach Tannen und Wald zu riechen. Manchmal meine ich deine Stimme zu hören, die mich ruft, mich anfleht durchzuhalten, mir befiehlt, zu kämpfen. Mir mitteilt, dass ich das alles schon einmal ungebrochen überstanden habe - und dass ich es auch dieses Mal schaffen werde. Dass ich nicht aufgeben darf.

Manchmal meine ich aber auch einen anderen Jungen statt dir zu sehen. Einen Jungen mit feuerroten Haaren, der mich arrogant angrinst, mich neckt, mich reizt, damit ich die Schrecken, die um mich herum geschehen, vergessen kann. Manchmal meine ich zu hören, wie er mich Flöckchen nennt, manchmal meine ich seinen Duft nach Glut und Rauch in der Nase zu spüren, manchmal meine ich den wärmenden, zartbitteren Geschmack seiner Lippen auf mir zu spüren. Manchmal meine ich, dass ihr vor mir steht - ihr beide. Dass ihr eure Hände auf meine Schultern legt und mir versprecht, mich herauszuholen - ich müsste nur lange genug ausharren.

Also lasse ich meine Haare wie einen Vorhang vor mein Gesicht fallen. Ich sitze nicht länger vor einem Fenster und beobachte die Geschehnisse. Ich habe das Fensterglas zertrümmert und stehe in dieser Umgebung - als fester Bestandteil, der nicht weichen wird.

Ich lasse sie alle sehen, was sie sehen wollen: Ein schwaches, gebrochenes, zitterndes Etwas, das sie nach Herzenslust schikanieren, betatschen und foltern können. Ich lasse zu, dass er mir ins Ohr flüstert, dass er meinen Körper mit seinen Händen erkundet. Ich lasse zu, dass er mir Fragen stellt, ich lasse zu, dass er das Messer nimmt und es langsam über meine Haut zieht, quälend langsam. Ich lasse zu, dass man mich umdreht, meinen Rücken entblößt, und das Wort auf meinem Rücken erneuert wird - mit anderen, noch heißeren Brandeisen.

Ich lasse es alles zu. Damit, wenn der Tag kommt, an dem ihr mich holt - und der Tag wird kommen - zu einem denkwürdigen, spektakulären Ereignis wird.

Und eine Woche später ist es soweit.

Burning IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt