Schluchzend lehnt sie sich an mich. "Ich will nicht sterben", flüstert sie so leise, dass ich sie bei dem wilden Getose um uns herum kaum verstehen kann - Geräuschdämpfung hin oder her. Aber sie bringt mich auf eine Idee.
"Das wirst du nicht, dafür sorge ich", versichere ich ihr. "Aber dafür musst du bei Bewusstsein bleiben." Schwach nickt sie und sucht mit ihrem verzweifelten Blick den Meinen. Lächelnd drücke ich mich fester an sie und beginne zu erzählen, um sie wach zu halten - obwohl es meinen Vorsatz bricht, mein eigenes Versprechen.
"Mein Name ist Snow, ich bin siebzehn Jahre alt. Ich habe einen Zwillingsbruder namens Ice und zwei Schwestern, eine jüngere und eine Ältere. Annrhia ist erst sieben Jahre alt, aber wir nennen sie immer nur Ann, weil das kürzer ist. Meine ältere Schwester ist neunzehn, sie heißt Lilliane; wir nennen sie immer Iane. Ich sage zwar, sie sind meine Schwestern, aber eigentlich sind wir nur zur Hälfte Geschwister. Wir haben andere Mütter, die allerdings beide schon gestorben sind. Ices und meine bei unserer Geburt, Anns und Ianes bei einem Unfall. Das Verhältnis zwischen Iane und mir ist schwierig, da sie mir und Ice die Schuld am Tode ihrer Mutter zuweist. Nur Ann gegenüber ist sie immer offen und nett." Für einen Moment schweige ich nachdenklich, denn ich weiß nicht, wie ich das Folgende in Worte fassen soll.
"Meine gesamte Kindheit habe ich eingesperrt in einem Zimmer verbracht, da mein Vater sich für mich geschämt hat. Eine weibliche Eisgeborene gilt als dunkles Omen in Luna, als Zeichen dafür, dass es zugrunde geht mit der Familie. Ein männlicher Eisgeborener dagegen gilt als Zeichen für Stärke und Wohlstand, daher hat mein Bruder weit mehr Freiheiten genossen. Als ich dann älter geworden bin - ungefähr als ich sieben war - hat mein Vater angefangen, seine Wut und seinen Frust an mir abzureagieren. Meine Tage waren geprägt von Folterstunden, in denen ich immer wieder an den Rand des Todes gelangt bin. Schließlich hat mein Vater mich verkauft - und hier bin ich." Das ist sie. Die grobe Geschichte meines Lebens. So viel dürfen Außenstehende erfahren, nicht mehr. Der Rest ist ein wohlbehütetes Geheimnis, das mehr als nur mich in den Abgrund stürzen würde, würde jemand dahinter kommen.
Freedom schweigt einige Sekunden, dann beginnt auch sie zu erzählen. "Mein Name ist Freya, ich bin zwölf. Ich bin ein Einzelkind; meinen Vater kenne ich nicht, meine Mutter ist eine der geheimen Huren in Luna gewesen. Einer ihrer eifersüchtigen Kunden hat zu viel getrunken und war dementsprechend unkontrolliert, als er mit meiner Mutter geschlafen hat. Schließlich wollte er sich sogar an mich heran machen und meine Mutter hat mich verteidigt. Dabei ist es in einem Chaos ausgeartet und damit geendet, dass der Mann tot am Boden lag, erschlagen von einem Kerzenhalter. Meine Mutter ist aus dem geheimen Bordell geflohen, da die Soldaten der Königsfamilie sie gejagt haben, um sie für ihre Tat zu bestrafen. Irgendwie haben sie von der Einrichtung erfahren - und das zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Dabei hat meine Mutter mich mitgenommen und wir sind wochenlang in den Schatten versteckt durch die Straßen gewandert, auf der Suche nach einem sicheren Ort, an dem wir leben könnten." Freedom verstummt und eine Träne rinnt über ihre Wange.
Ich weiß jetzt schon, dass ihre Geschichte kein gutes Ende nimmt. Ein scharfer Stich nistet sich in meinem Herzen ein, denn ich weiß, was danach geschehen ist. Ich habe es selbst gehört, ich weiß, wer den Einsatz geleitet hat.
"Schließlich haben wir uns in die Kanalisation geschlichen und uns dort versteckt, weil wir dachten, es wäre sicher. Aber es war eine Falle. Die Soldaten wussten, dass wir irgendwann dorthin kommen würden, und haben uns aufgelauert. Meine Mutter hat sich für mich aufgeopfert, damit ich fliehen konnte. Ganz kurz habe ich ein einziges Mal einen Blick nach hinten geworfen, und da haben sie sie...", wieder ein Schluchzen und noch mehr Tränen, "Sie haben sie vergewaltigt und anschließend enthauptet. Das ist gerade mal drei Wochen her. Danach hat mich ein Mann auf den Straßen angehalten und mich an diese Sklaventreiber verkauft, obwohl er mich gar nicht gekannt hat. Er hat einfach den Lohn eingestrichen und sich dann aus dem Staub gemacht."
Ich schließe die Augen und vergrabe mein Gesicht in ihren kalten, nassen Haaren. Ich erinnere mich an das blutverschmierte Gesicht des Leiters des Einsatzes. Ich erinnere mich daran, wie er getobt hat, weil diese Soldaten ohne eine Strafe davongekommen sind. Ich erinnere mich daran, wie erschöpft er ausgesehen hat, nachdem er zurückgekehrt ist. Wie er direkt zu mir geeilt ist, weil er seine Emotionen zeigen musste und er vor niemandem außer mir Schwäche zeigen durfte. Ice, ist es nicht ironisch, dass ich mich ausgerechnet mit einem Opfer deiner Arbeit angefreundet habe? Ist es nicht eigenartig, dass ausgerechnet ich, die Schwester des Mörders ihrer Mutter, sie in den Armen hält und versucht, sie am Leben zu erhalten? Du hast das Leben einer ihr wichtigen Person genommen und ich versuche sie jetzt zu retten. Ist das nicht seltsam?
Das Schicksal muss wirklich grausam sein, dass es das zulässt. Sollte Freedom jemals herausfinden, dass du es warst, Ice, der hierbei einer derjenigen ist, die die Hauptschuld tragen, und dass du mein Bruder bist, wird sie sich sicherlich von mir abwenden und ich könnte es ihr nicht einmal übel nehmen. Schließlich trifft auch mich einen Bruchteil der Schuld, auch wenn dieser Sadist, den ich einst Vater nannte, dir keine andere Wahl gelassen hat.
Ist es sehr egoistisch, dass ich Freedom dieses kleine Puzzelteil verschweigen will? Dass ich sie bei mir behalten will, dass ich nicht will, dass sie mich von sich stößt? Selbst wenn, werde ich wohl oder übel damit leben müssen, denn ich bin nun mal auch nur ein Lebewesen und als solches ist es wohl nur natürlich, egoistisch zu handeln. Auch, wenn ich durch das Eis in meiner Seele unterkühlt bin.
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Burning Ice
Fantasy↬Wenn Feuer und Eis einander begegnen...↫ ...Wie ein Kaninchen drängt er mich rückwärts an die Wand. Er hält meine Handgelenke über meinem Kopf fest und nagelt mich förmlich an Ort und Stelle. "Nie wieder", knurrt er. In seinen Augen leuchtet die Wu...